«Er hat mich nicht sehr lieb.» Das sind die einfachen Worte einer schlichten jungen Frau, in denen der existenzielle Konflikt mit ihrem Vater zusammengefasst ist. Die junge Catherine aus wohlbetuchter Familie verliebt sich an einer Party in den jungen Abenteurer Morris Townsend, gut aussehend, aber mittellos. Er wirbt um sie, sie verliebt sich in ihn – die beiden verloben sich im Geheimen. Doch Catherines Vater, der verwitwete Arzt Austin Slope, untersagt seiner Tochter die Liaison.
Beziehungen seziert
Mit Hilfe ihrer einfältigen Tante Lavinia Penniman kann Catherine die Verbindung zu Townsend eine Weile weiterführen. Bis ihr Vater sie auf eine monatelange Europareise mitnimmt. Sie vergisst ihre Liebe zwar nicht, doch nach der Rückkehr nehmen die Dinge einen schmerzhaften Verlauf. Denn sie muss erkennen, dass bei ihrem Geliebten mehr finanzielle Erwägungen als Gefühle eine Rolle gespielt haben.
Der US-amerikanische Schriftsteller Henry James (1843–1916) hat mit dem Roman «Washington Square» ein Kammerspiel geschrieben, in dem er menschliche Beziehungen seziert. Im Mittelpunkt stehen Catherine und ihr Vater. Er macht sich ein Spiel daraus, das Glück seiner Tochter zu verhindern, denn er bezweifelt die lauteren Absichten ihres Galans, dieser soll es lediglich auf Catherines Erbschaft abgesehen haben.
Mit schier wissenschaftlicher Berechnung hintertreibt der Vater die Beziehung und erlabt sich am Unglück seiner Tochter. Unerbittlich verfolgt er, wie sie sich zusehends aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzieht. Was er in seiner Selbstgerechtigkeit übersieht: Die Tochter reift unter diesem Druck zu einer eigenständigen Persönlichkeit heran. Und das Mauerblümchen entwickelt einen unerwarteten Starrsinn – zu ihrem eigenen Unglück.
Henry James kam aus einer reichen New Yorker Familie und bereiste schon als Kind häufig Europa. Er studierte Recht in Harvard, wandte sich dem Schreiben zu, zuerst als Journalist, später als Schriftsteller. Nach einem längeren Aufenthalt in Paris, siedelte er nach England über, wo er bis zu seinem Tod lebte. Aus Protest gegen die US-amerikanische Nichteinmischung zu Beginn des Ersten Weltkriegs nahm Henry James 1915 die britische Staatsbürgerschaft an. Er gehört heute zu den Klassikern der englischsprachigen Literatur.
Ein Lehrstück
Seinen Roman von 1880 schrieb James, als er längst in England lebte. An einer Dinnerparty 1879 erzählte ihm eine Lady eine ähnliche Schicksalsgeschichte, der Autor verlegte sie nach New York an den «Washington Square», wobei «Square» als Rechteck metaphorisch zu verstehen ist – der Begriff steht für das schablonenhafte Denken des Vaters, wie es im klugen Nachwort zur neuen Herausgabe heisst.
Der begnadete Vielschreiber James hat einen Roman in der viktorianischen Tradition verfasst. Er verpackte darin ein Lehrstück, nämlich, wie fatal die Berechenbarkeit menschlicher Beziehungen sein kann. Und James belegt, wie schwer es für Frauen im 19. Jahrhundert war, sich gegen die gesellschaftlichen Normen aufzulehnen. Besonders dann, wenn ein herzloser Vater seiner Tochter das Glück missgönnt.
Henry James
«Washington Square»
Dt. Erstausgabe:
1880
Erhältlich bei Manesse.