Wem hat der Heilige Georg seine besondere Popularität zu verdanken? «Einer Frau natürlich», sagt Donatus Stemmle. «Ohne die zu befreiende Königstochter wäre Georg kaum zum heldenhaften Drachentöter geworden.» Der Zürcher Historiker steht vor der Kirche St. Oswald in Zug und erläutert die Figuren des Hauptportals. Nebst dem Heiligen Georg und weiteren Männern sind dort an prominenter Stelle auch zwei Frauen zu sehen: Maria und deren Mutter Anna. «Freilich in einer klassischen Darstellung der Anna selbdritt», gibt Stemmle zu bedenken. «Der Dritte ist Jesus, dem die beiden Frauen ihre Bedeutung verdanken. Also eine klar patriarchale Sichtweise.»
Donatus Stemmle spricht zu einer zehnköpfigen Gruppe, die sich zur thematischen Stadtführung unter dem Titel «Männersichten – Frauensichten» eingefunden hat. Diese unternimmt der «fremde Führer aus Zürich», wie er lachend betont, im Auftrag des Vereins Zuger Stadtführungen.
Frauen auf Extremrollen reduziert
Es ist ein prächtig schöner Samstagmorgen Anfang Juli, die Kleingruppe wandelt in sommerlich leichter Kleidung durch die Gassen. Allerdings tragen alle eine Schutzmaske. Donatus Stemmle muss darauf bestehen, bedauert zugleich aber auch: «Ich möchte mit meinen Ausführungen zum Denken anregen, wozu gezielte Irritationen gehören. Dies geschieht auch mittels nonverbaler Kommunikation, was mit Masken vor dem Gesicht schwierig ist.»
Der selbstdeklarierte Altachtundsechziger versucht es trotzdem und betont nach wenigen Metern: «Frauen wurden in der Geschichtsschreibung allzu lange auf die Extremrollen Hexe oder Heilige reduziert. Alles zwischendurch ging vergessen.» Anhand von Objekten, Bauten und Quellen wolle er andere Sichtweisen bieten und einen Paradigmenwechsel provozieren.
Minnegesang aus der Hightech-Box
Das Publikum zeigt sich offen, quittiert Stemmles Provokationen mit Lachen, was durch den Maskenstoff hörbar ist. Und es fragt zuweilen interessiert nach. Schliesslich sind alle gezielt zu dieser thematischen Führung erschienen. Angereist aus Luzern, dem nahen Hünenberg, aber auch vom Bodensee und aus Zürich. «Es kommen meistens Leute aus der Umgebung, um die Stadt in einem neuen Licht zu sehen», sagt Stemmle. Immer wieder gebe es Ausflügler aus der Schweiz, Touristen aus dem Ausland seien selten.
Thematische Stadtführungen liegen im Trend. In allen grösseren Städten der Schweiz werden solche angeboten, organisiert von Tourismusbüros oder Vereinen. Manche können nur als Gruppe gebucht werden. Andere sind, wie in Zug, öffentlich und finden regelmässig statt. Donatus Stemmle begrüsst zu seinen Rundgängen bis zu 20 Personen, wobei ihm kleinere Gruppen lieber sind, was an der Station Zytturm in Zug spürbar wird. Dort muss sich der emeritierte Didaktik-Dozent gegen den Verkehrslärm von Neugasse und Grabenstrasse durchsetzen, was ihm Mühe bereitet und mit Maske kaum möglich ist. In fast idyllischer Stille zeigt sich dagegen die Station Burggraben, wo Stemmle eine Hightech-Box aus seiner Umhängetasche zaubert und mittels Smartphone einen Minnegesang erklingen lässt. Aus dem mittelalterlichen Zug erzählt er dazu die Sage zur hochadeligen Burgbewohnerin Ita von Pfullendorf, die sich als Ehefrau eines Habsburgers allzu selbstsicher gezeigt habe und in einer Chronik als «hochmütig wip» gebrandmarkt wurde.
Kleiner Exkurs ins Nachbarland Frankreich
Einmal bei der Umkehr klassischer Rollenbilder angelangt, zückt Historiker Stemmle ein Zitat der französischen Philosophin Christine de Pizan, die im 15. Jahrhundert als Militär-Expertin galt. Dann findet er den Weg zurück nach Zug und erzählt von einer gewissen Zurlaubia, die Jahrhunderte später höchst aktiv im Anwerben und Vermitteln von Söldnern war.
In Zug hat es eine Frau sogar zur Brunnenfigur geschafft. Bei der Liebfrauenkirche nahe des Seeufers steht sie: Greth Schell, die im frühen 18. Jahrhundert als erste Lehrerin der Stadt Mädchen und Knaben gemeinsam unterrichtete. Der Brunnen ist aber keine Ehrerweisung, denn er zeigt eine alte Frau, die ihren betrunkenen Ehemann nach Hause trägt. Ein klassisches Fasnachts-Motiv, das auf seltsame Weise mit einer historischen Figur verquickt wurde. Mit solch anderen Sichtweisen auf die Stadt Zug kommt Donatus Stemmle bei seinem Publikum an. Nach anderthalb Stunden zieht dieses dankbar und vergnügt von dannen. «Geschichte ist nicht so schwarz-weiss, wie sie meist vermittelt wird», erklärt er seinen Erfolg. «Sie ist viel komplizierter und deshalb so interessant.»
Stadtführungen Zug
Altstadt- und thematische Führung jeweils samstags, 09.50–11.30
Keine Anmeldung erforderlich
www.zugerstadtfuehrungen.ch
Städte in neuem Licht
Jede grössere Schweizer Stadt bietet Führungen an. Informationen finden sich auf den offiziellen Websites der Städte oder der Tourismusbüros. Mancherorts gibt es zudem thematische Stadtführungen, die auch von Vereinen durchgeführt werden. Einige interessante Beispiele:
Mundart in Bern
Unter Titeln wie «Damenwahl» oder «Bern top secret» lädt die Vereinigung StattLand zu wöchentlichen thematischen Führungen ein. Die Tour «Bärn laferet» sucht nach städtischen Zeugen zur Berner Mundart.
www.stattland.ch
Literarisches in Solothurn, Chur, Olten etc.
Das Projekt Literaturspur bietet literarische Rundgänge durch zwölf Schweizer Städte an. Dies zu Themen wie «Barockglanz und mehr» in Solothurn, «Heilignüchtern» in Chur oder «Zug um Zug literarisch» in Olten.
www.literaturspur.ch
Architektur in Stadt und Land
Architour ist spezialisiert auf Gruppen- und Einzelführungen in Zürich, Basel, Luzern, St. Gallen und Graubünden. Die Touren werden von lokalen Architekten geleitet.
www.architour.ch
Historisches in Basel
Ein Basler Original, der «Grabmacherjoggi», führt seine Gäste an versteckte Orte und erzählt Geschichten von anno dazumal: in Kleinbasel über Fischer und Färber, in Grossbasel über Raubmörder und Klosterfrauen.
www.grabmacherjoggi.ch
Sozialgeschichte in Luzern
Die Arbeitsgruppe UntergRundgang veröffentlicht Stadtführer zur Sozialgeschichte von Luzern und bietet öffentliche Touren an.
www.untergrundgang.ch/index.php
Needlepark in Zürich
Digital mittels App oder an dialogischen Führungen lässt sich ein trauriges Kapitel Zürichs erleben: die offene Drogenszene auf dem Platzspitz, berüchtigt als «Needlepark».
www.drogenparcours.ch
Weitere Links:
www.stattreisen.ch
www.surprise.ngo/angebote/stadtrundgang/
www.stadtfenster.ch