kulturtipp: Täglich ereignen sich Dutzende von Anschlägen, die oft Menschenleben kosten. Nach welchen Nachrichtenkriterien kommen sie in die Berichterstattung?
Fredy Gsteiger: Es gibt objektive und weniger objektive Kriterien. Zu den objektiven Kriterien gehören das Ausmass eines Anschlages, die Opferzahl oder die Nähe. Diese ist nicht nur geografisch definiert: Ein ferner Ort, den aber viele Schweizer kennen, wo viele schon waren, ist «journalistisch näher» als ein kilometermässig näher gelegener, der den meisten aber fremd ist. Zu den weniger objektiven Kriterien gehört das «Überraschende» eines Gewaltaktes. Ein erstes IS-Attentat in Neuseeland beispielsweise würden wir anders gewichten als das hundertste in Bagdad. Wichtig ist auch, wie viel Erklärungsbedarf besteht – gibt es irgendwo neue Muster, neue Motive, neue Überlegungen? Oder handelt es sich um einen weiteren Fall, zu dem sich nur längst bekannte Erkenntnisse wiederholen lassen?
Sie wollen künftig die Täter weniger beachten, aber gerade die Täterschaft sagt viel über den Hintergrund eines Anschlags aus.
Es geht nicht darum, die Erklärungen und die Motive hinter einer Tat auszublenden, sondern den Akteur selber. Über wesentliche Erkenntnisse und Erklärungen zu einer Tat werden wir auch künftig berichten. Wir wollen aber vermeiden, dass die Berichterstattung zu einer Heldenlegende beitragen kann. Der Täter als Individuum, sein höchstpersönlicher Lebenslauf und sein Bild sollen bei uns nicht mehr vorkommen. Als «Typus» müssen wir ihn aber analysieren.
Häufig ist die Urheberschaft eines Anschlags ohnehin unklar. Wie schützen Sie die Radiohörer vor voreiligen Vermutungen und Verdächtigungen?
Indem wir nur das berichten, was wir aus gesicherten Quellen wissen – wobei gerade hier unsere bewährte Zwei-Quellen-Regelung gilt. Wenn Ungesichertes, Spekulatives, Propagandistisches auch in anerkannten, nach journalistischen Prinzipien funktionierenden Medien prominent breitgetreten wird, weisen wir darauf hin. Gleichzeitig machen wir aber unserem Publikum klar, dass es sich da um nicht gesicherte Behauptungen handelt. Wir sagen also explizit, was wir nicht wissen. Wenn Unsinn oder Verschwörungstheorien auf Blogs oder sozialen Medien ohne journalistisches Renommee herumgeboten werden, ignorieren wir dies.
Behandeln Sie politische Anschläge grundsätzlich anders als Wahnsinnstaten Verwirrter?
Nein, nicht grundsätzlich anders. Allerdings gibt es bei Wahnsinnstaten von Einzelakteuren oft weit weniger zu sagen und zu erklären als bei Terrorattentaten. Da besteht mehr Erklärungsbedarf, weil sich dahinter ja eine politische Motivation und eine Organisation oder ein Netzwerk verbergen.
Was ist in Ihren Augen «Terror»? Ein Anschlag in Tschetschenien, in Xinjiang oder Südthailand hat je nach Perspektive mehr mit Freiheitskampf als mit Terror zu tun.
Wir betrachten jegliche Gewalttaten gegen Unbeteiligte, gegen Zivilisten als terroristisch. Sie sind auch durch einen Freiheitskampf nicht zu rechtfertigen. Es gibt keinen «guten Terrorismus».
Das Publikum stumpft ab – «Nicht schon wieder» ist eine häufige Reaktion von Medienkonsumenten. Wie tragen Sie dem Rechnung?
Indem wir nicht reflexartig jedes Terrorattentat, jeden Amoklauf als Breaking News behandeln und ihnen viel Aufmerksamkeit widmen. Wie bei allen Themen ist auch beim Terrorismus der Sättigungsgrad des Publikums relativ rasch erreicht. Wenn sich Dinge wiederholen, müssen wir unsere Schleusenwärterfunktion wahrnehmen. Das heisst, wir berichten nur dann ausführlich über das rein Nachrichtliche hinaus, wenn es wirklich etwas Neues zu sagen, zu erklären und zu analysieren gilt. Wenn wir substanziell Neues und Wichtiges zu sagen haben, können wir von der Aufmerksamkeit unseres Publikums ausgehen.
Die Massenmedien laufen stets Gefahr, als Sprachrohr missbraucht zu werden. Wie verhindern Sie dies, etwa bei der Berichterstattung über politischen Extremismus?
Indem wir uns in jedem einzelnen Fall überlegen, welche Rolle wir spielen, und uns stets bewusst sind, dass wir bei solchen Themen nicht nur Berichterstatter, sondern auch Akteur sind. Wir blähen die Berichterstattung keinesfalls unnötig auf, verzichten auf Spektakeljournalismus und greifen bloss das Nötige und Wichtige auf – und dies in möglichst nüchternem Ton. Was nötig und wichtig ist in der Berichterstattung, ist allerdings zwangsläufig immer Ermessenssache und muss in jedem Fall neu erwogen werden.
Auch Spätfolgen terroristischer Ereignisse können problematisch sein. Soll man beispielsweise über die Gerichtsverhandlung von Anders Breivik berichten und ihm somit erneut ein Podium bieten?
Ja, aber mit grösster Vorsicht und Zurückhaltung. Ganz ignorieren können wir ein solches Ereignis nicht. Zumal es in diesem Fall in Norwegen sehr hohe Wellen wirft. Wir haben zwar deshalb über den Breivik-Prozess berichtet, aber nicht im grossen Umfang und in sehr sachlichem Ton. Vor allem gilt es in der Berichterstattung alles zu vermeiden, was es Breivik erlaubt, sich erneut zu inszenieren und seine Hassideologie weiterzuverbreiten.
Fredy Gsteiger
Der Journalist Fredy Gsteiger ist seit mehr als drei Jahren stellvertretenden Chefredaktor von Schweizer Radio SRF. Der 53-Jährige hat in St. Gallen das Wirtschaftslizenziat erworben und danach in Frankreich und Kanada Politikwissenschaften studiert. Er war mehrere Jahre als politischer Redaktor und Frankreich-Korrespondent für «Die Zeit» tätig, bevor er 1997 die Chefredaktion der «Weltwoche» übernahm. Seit 2002 ist Gsteiger bei Schweizer Radio DRS beziehungsweise SRF tätig, zunächst als Produzent der Sendung «Echo der Zeit», seit 2006 als diplomatischer Korrespondent.