Heiterkeit und Melancholie, das Schöne und das Schreckliche liegen nahe beieinander in den Geschichten von Sasa Stanisic. Wer sich darin auf sicherem Boden glaubt, stösst plötzlich auf einen Abgrund. Eine unerwartete Wendung, eine kühne Wortkreation oder ein Einsprengsel ins Fantastische wartet immer hinter der nächsten Wegbiegung in Stanisics Texten. So taucht etwa in der Erzählung «Im Ferienlager im Wald» ein zähnefletschender Wolf am Bett eines kleinen Jungen auf. Nur ein Albtraum? Auch der Aussenseiter Jörg, der mit dem Ich-Erzähler das Zimmer teilt, hat das Raubtier mit den gelben Augen gesehen …
Klingende Sätze
Sasa Stanisic lässt in seinen Erzählungen in rasantem Tempo Menschen aufeinandertreffen, Gespräche entstehen, Erinnerungen aufleuchten. Er führt die Leser zu Hirten in das bosnische Gebirge Romanija, in einen Billardsalon, ins Flugzeug Richtung Rio oder nach Reykjavik. Die Geschichten springen ihn überall an, lustvoll spinnt er die Fäden und klimpert spielerisch auf der Sprachklaviatur. Das ergibt klingende Sätze wie: «Frau Helms zupfte unsichtbare Erinnerungsflusen von ihrer Bluse und streute sie wie Salz zwischen den Fingern auf den See.» Hinter dem leichten Tonfall, der übersprudelnden Fantasie stecken meist existenzielle Fragen nach Heimat, Zugehörigkeit. Seine Figuren sind oft Reisende, sie «irrlichtern durch die Welt», ihren Sehnsüchten hinterher jagend. So wie der junge Ich-Erzähler und seine zwei Geliebten, die gemeinsam in Südfrankreich unterwegs sind. Sie gehören zur unbekümmerten, gut betuchten Generation: «Wir sind Existenzgründer ohne Existenzsorgen. Wir haben unser Start-up nicht in den Sand gesetzt. Wir sind seine Goldkinder und haben uns Freiheiten bewahrt.» Dann bricht die Vergangenheit in das sorglose Flohnerleben ein. Der Ich-Erzähler erfährt am Telefon, dass sein geliebter Grossvater im Sterben liegt. Sogleich sind die Erinnerungen zurück: Sein im Fluss ertrunkener Vater, der Krieg, die Flucht mit dem Grossvater und das schale Schamgefühl, dass er ihn nach der Flucht nie mehr besucht hat.
Mit Augenzwinkern
Sasa Stanisic schwenkt in dieser Erzählung virtuos zwischen Vergangenheit und Gegenwart, lässt auf wenigen Seiten eine ganze Welt entstehen. Die Geschichte sei stark autobiografisch geprägt, sagte der Autor in einem Interview mit ARD. Das Thema Flucht spiegelt sich in den Erzählungen des 38-Jährigen auf vielfältige Weise wider. Stanisic ist als 14-Jähriger nach der Besetzung seines bosnischen Heimatorts mit den Eltern nach Deutschland geflohen. Dort hat er ein neues Leben aufgebaut, in Heidelberg studiert, in Leipzig das Literaturinstitut besucht und mit dem autobiografisch geprägten Roman «Wie der Soldat das Grammofon repariert» über seine Kindheit und den beginnenden Krieg in Bosnien debütiert.
Dem Begriff «Migrationsliteratur», dem er selbst oft zugeordnet wird, begegnet er mit einem Augenzwinkern. «Ein Autor ist kein Hofnarr seiner Biografie. Von einem Komponisten, der in der Nähe einer Brücke geboren wurde, darf man nicht immer Sinfonien über Karpfen erwarten», antwortete er einst auf die Frage eines «Spiegel»-Journalisten.
Humor und Wehmut
Selbstironisch thematisiert er seine Herkunft auch in der Erzählung «Fallensteller». Darin kehrt der Autor zurück in das halb-fiktive Dorf Fürstenfelde, das bekannt ist aus seinem preisgekrönten Roman «Vor dem Fest». Inzwischen tummeln sich dort die «Literatur-Touristen». Nebst den altbekannten, schrulligen Figuren lässt Stanisic in der neuen Erzählung den «Jugo-Schriftsteller» auftreten, der die Geschichten der Bewohner zwischen zwei Buchdeckeln verewigt hatte.
Seine Figur Lada feiert nun ebenfalls mit einem Buch Erfolg, wird zum «Autor mit Provinzhintergrund». «Wir wissen, auf so einen bist du nie vorbereitet, mit seinem Gepäck voll Allerlei: Sprache, Mut und Zauberei», dichtet Lada in seinem Buch. Diese drei Ingredienzen gelten auch für die humorvoll-wehmütigen Erzählungen von Sasa Stanisic selbst.
Buch
Sasa Stanisic
«Fallensteller»
280 Seiten
(Luchterhand 2016).
4 Fragen an Autor Sasa Stanisic
«Was wäre, wenn die Dinge ein wenig ausser Kontrolle geraten würden?»
kulturtipp: Manche surrealen Passagen in Ihren Erzählungen muten wie Träume an. Lassen Sie sich von eigenen Träumen inspirieren?
Sasa Stanisic: Ich erinnere mich nicht oft an meine Träume. Aber ich versuche mir im Alltag oder beim Nachdenken über bestimmte Situationen eher vorzustellen, was wäre, wenn die Dinge ein wenig ausser Kontrolle geraten würden, Konversationen zum Beispiel. Was also, wenn das Unwahrscheinliche ganz selbstverständlich Teil unseres Lebens wäre, also etwas wahrscheinlicher wäre als unwahrscheinlich. Daraus ergeben sich die erzählerischen Momente, in denen die Wirklichkeit trügerisch zu sein beginnt.
Menschen auf der Flucht tauchen immer wieder in Ihren Erzählungen auf. Inwiefern beeinflussen Sie aktuelle Themen wie die Flüchtlingsbewegung in Ihrem Schreiben?
Sehr. Privat lässt mich die Politikkrise ja auch nicht unberührt, und das spiegelt sich in den Texten wider. Fast jeder, den ich kenne, bezieht Stellung dazu oder engagiert sich in der einen oder anderen Weise. Auch dies versuche ich zu reflektieren, indem ich meine Figuren nachdenken lasse über die momentane politische Katastrophe. Denn nichts weniger als eine Katastrophe ist das politische Versagen und der Unwille zu helfen, vor allem auf der europäischen, und zumeist auch auf der nationalen Basis.
In Ihrer Erzählung «Fallensteller» tauchen die Figuren aus Ihrem zweiten Roman «Vor dem Fest» wieder auf: Konnten Sie sich von den lieb gewonnenen Figuren nicht lösen? Ist die Erzählung als Fortsetzung gedacht, oder handelt es sich gar um «Reste aus dem Roman», wie ein Kritiker im Literarischen Quartett vermutete?
Das Dorf und seine Bewohner waren nach wie vor präsent. Und die tatsächlichen Entwicklungen in den Ortschaften, in denen ich recherchiert hatte, waren wieder so interessant, dass ich unbedingt weitererzählen wollte. Auch dort sind Geflüchtete eingezogen. Das Dorf lebt weiter, und ich fühle mich dort gleichermassen wohl und unwohl. Das ist für mich die beste Voraussetzung zum Schreiben.
Der Wolf streunt durch Ihre Erzählungen nebst Vögeln, Wildschweinen, Ratten etc. Welche Bedeutung hat das wilde Tier für Sie und Ihr Schreiben?
Alles, was eine Anomalie ist, interessiert mich sofort. Und die wilden Tiere, vor allem Raubtiere, sind zumindest in unseren Breitengraden ein Phänomen – wie zum Beispiel waschechte Berliner in Berlin. Sie werden durch Menschen instrumentalisiert, alte Ängste und pragmatische Überlegungen über die Gefahr durch die Tiere treffen aufeinander und erzeugen ein spannendes Feld aus Mythos, Symbol und Überlebenskunst. Das alles ist die beste Ausgangslage für Geschichten.