Drei Schicksalsgöttinnen spinnen die Fäden des Lebens. Eine von ihnen ist zuständig für die Vergangenheit, die zweite für die Gegenwart, die dritte für die Zukunft. In Neuthal im Zürcher Oberland kann man die weiss gekleideten Frauen, auch Nornen genannt, mit fadenartigem Schleier zu geheimer Stunde antreffen – ihr Reich ist ein Garten, dessen Bäume sie mit weissen Spinnfäden umgarnt haben. Dazu eine Frauenstimme: «Manche sagen, unser Schicksal sei zusammengenäht wie ein Stück Stoff, sodass unser Los mit dem vieler anderer verknüpft ist.»
In Neuthal wird dieser Tage viel gesponnen – nicht nur das Schicksal, auch handfestes Garn: Das Freilicht-Theaterspektakel «Spinnen im Neuthal» lässt die Geschichte des malerischen Ortes zwischen alter Spinnerei, geheimnisvollen Grotten und verwunschenen Weihern lebendig werden. Ein chronologischer Erzählfaden fehlt, stattdessen ist eine Collage aus Bildern und Sequenzen zu sehen.
Allerdings gibt es eine zentrale Figur: den Unternehmer Adolf Guyer-Zeller, der 1839 in Neuthal geboren wurde und als Sohn des Spinnerei-Eigentümers aufwuchs. «Wir haben alles an ihm aufgehängt und die verschiedenen Themen weitergesponnen», erklärt die Winterthurer Regisseurin Melanie Mock, die gemeinsam mit Elisabeth Wegmann für die künstlerische Leitung verantwortlich ist. Die beiden Frauen von der Organisation T-Raumfahrt planen die Produktion seit drei Jahren, haben viele Gespräche mit Vereinen und Beteiligten aus der Region geführt und die Geschichte des Ortes bis in die Tiefe recherchiert.
Rückkehr aus fernen Ländern
Mit «Spinnen im Neuthal» haben Mock und Wegmann jedoch kein herkömmliches Historienstück geschaffen: «Wir wollen Geschichten aufleben lassen und geschichtsträchtige Orte bespielen, das Historische aber immer wieder brechen.» Das gelingt etwa durch synthetische Klänge, schlichte Kostüme und moderne Lichttechnik.
Doch es gibt auch klassische Szenen: Einen Höhepunkt stellt gleich zu Beginn die Fahrt von Bauma nach Bäretswil mit der alten Dampfbahn dar. Die Bahn wurde 1899 gebaut und war ein lang gehegter Wunsch von Guyer-Zeller. Dieser kam nach Reisen in fremde Länder mit 24 Jahren in seine Heimat nach Neuthal zurück – mit vielen Träumen und kühnen Plänen. Besonders faszinierten ihn grosse Eisenbahnprojekte, so ist ihm die Jungfraubahn im Berner Oberland zu verdanken.
Eintauchen in die Visionen von Adolf Guyer-Zeller
Nach der Begrüssung am Bahnhof Bauma nimmt Guyer-Zeller die Besucher mit auf eine Zugreise. Er selbst reist im 19. Jahrhundert, kommt aber gerne ins Gespräch mit seinen modernen Mitreisenden. Er ist neugierig, schliesslich hat er diese Mode und solche Stoffe in seiner Baumwollspinnerei noch nie gesehen.
In Bäretswil angekommen, taucht der Besucher ein in Guyer-Zellers Visionen – auf der Bahnhofsrampe und im Stationshäuschen träumt er von einer Bahn, die das Engadin mit dem Orient verbindet, er will die Fabrik in Neuthal an den Welthandel anschliessen, die Wasserkraft ausbauen, und er sieht sich selbst als Eisenbahnkönig. Seine Weltläufigkeit unterstreicht er prahlerisch mit Telefonaten in verschiedensten Sprachen, Projektionen von Karten und Skizzen seiner Pläne schmücken die Szenerie.
Nun geht es zurück mit der Bahn nach Neuthal. Doch plötzlich hält der Zug mit quietschenden Bremsen. Guyer-Zeller springt aus dem Wagen, Ritter in Rüstung und auf wilden Pferden galoppieren kampfeslustig auf ihn zu: Sie stellen Anspruch auf das Land, das Guyer-Zeller zu besitzen glaubt. Mittelalter und Industriezeitalter verschmelzen ineinander – zu allen Zeiten geht es um ähnliche Themen. Zum Beispiel um die Beziehung zwischen Burgherr und Rittern, Fabrikbesitzern und Arbeitern, globalem Norden und Süden. Nachdem der Streit behoben ist, geht die Reise weiter nach Neuthal.
Einblick in die harte Arbeit in der Spinnerei
Dort angekommen eröffnen sich alte und neue Geschichten auf einem Rundgang durch das Industrieareal. Von der harten und eintönigen Arbeit in der Spinnerei erzählen Tänzerinnen zwischen Spinnmaschinen in der Fabrik. Der Bezug zu aktuellen Fragen ist Wegmann und Mock ein zentrales Anliegen: «Wir wollen einen Link zu den Missständen in der heutigen Textilindustrie schaffen: In Asien, wo die meisten unserer Kleider herkommen, geht es den Arbeiterinnen heute mindestens so schlecht wie in den Spinnereien der damaligen Schweiz.» Doch in Neuthal tragen sich auch Sagen und Märchen zu. Am Weiher hört man die Legende des armen Mädchens aus dem Zürcher Oberland, das sich für seine Liebe vom Drachen verschlingen liess. Auf der Wasseroberfläche spiegeln sich Bilder, die das Schilf reflektiert.
Viel Überraschendes mit Tiefgang
Bei den spinnenden Göttinnen im Garten stellen sich persönliche Fragen: Was ist mein Schicksal? Nehme ich mein Leben selber in die Hand, oder passiert es mir? Geben Glaube und Religion die Antworten? Guyer-Zeller zumindest war sehr gläubig, was sich in seinem Bau einer Grotte im Garten zeigt, die der Jerusalemer Grabeskirche nachempfunden ist. Lichtprojektionen zaubern dort eine sakrale Stimmung.
So erwartet den Besucher auf seiner Reise durch Neuthal und Umgebung eine Überraschung nach der anderen. Die Inszenierung, an der neben Profischauspielern auch viele Laien aus der Region und insgesamt über 200 Personen mitwirken, ist ein grosses Wunderwerk. Es bleibt erfreulicherweise frei von Historienkitsch und Kostümschlacht. Ein tiefgründiges Spektakel, welches das Zürcher Oberland während 15 Spätsommernächten zum Vibrieren und den Besucher zum Gedankenspinnen bringt.
Spinnen im Neuthal
Do, 24.8.–Sa, 30.9.
Treffpunkt und Beginn: Bahnhof Bauma ZH
Vier Abfahrten zwischen 19.30 und 21.08
www.spinnen-neuthal.ch