Sie brauche nur fünf Minuten, verspricht Mutter Jule (Ophélia Kolb). Aber dann kommt sie nicht mehr in die Bar zurück, wo ihre Kinder Claire (Jasmine Kalisz Saurer), Loïc (Paul Besnier) und Sami (Arthur Devaux) warten. Als die Wirtin (Claudia Grob) Anstalten macht, den Sicherheitsdienst zu rufen, fliehen sie – und kehren schliesslich auf eigene Faust nach Hause zurück.
Leben zwischen Moral und Überlebenstrieb
Im Spielfilmdebüt der schweizerisch-US-amerikanischen Regisseurin Jasmin Gordon bleiben Lücken und Fragen. Was hatte die Mutter so Wichtiges zu erledigen, dass sie ihren Nachwuchs im Stich lässt? Warum trägt sie eine elektronische Fussfessel, die sie den Kindern als Medizinalinstrument verkauft? Und wo ist eigentlich der Vater geblieben?
«Les Courageux» erzählt von einem Leben am Existenzminimum und lotet dabei den Graubereich zwischen Moral und Überlebenstrieb, zwischen Mut und Verzweiflung, zwischen Aussenseitertum und Freiheit aus. Dabei darf man sich als Zuschauer vieles selber zusammenreimen aus Details und versteckten Anspielungen. Aber natürlich steht und fällt alles in diesem Film mit der Mutter, die aus purer Not lügt und betrügt, dass sich die Balken biegen.
Auf der Gemeinde zum Beispiel, die Jule bei der Wohnungssuche helfen soll, scheint sie geistig komplett abwesend zu sein. Sie vergisst sogar, dem Beamten gegenüber die Asperger-Krankheit von Sohn Loïc zu erwähnen, was die Erfolgschancen erhöht hätte. Stattdessen wird die Mutter selber aktiv und bricht mit den Kindern in ihr «neues Haus» am Waldrand ein, muss dann aber blitzartig verschwinden, als der zuständige Makler überraschend mit Kaufinteressenten auftaucht.
«Les Courageux» spielt im Unterwallis. Die Handkamera von Andi Widmer schrammt immer wieder an der Grenze zwischen Zivilisation und rauschenden Wäldern entlang. Sind Letztere eine Bedrohung? Oder doch eher ein Fluchtpunkt? Es lässt sich bis zum Schluss nicht zweifelsfrei bestimmen.
Darstellerin Ophélia Kolb prägt und trägt den Film
Fünf Jahre hat Regisseurin Gordon nach eigenen Angaben in dieses Langfilmdebüt investiert. Die Mühe hat sich gelohnt. Indem der Film bewusst auf bestimmte Erklärungen verzichtet, hebt er sich von vergleichbaren Werken über das Prekariat ab. Hinzu kommt, dass nicht nur die Kinder in ihrem festen Willen nach Zusammengehörigkeit auf der Leinwand glaubwürdig wirken. Es ist vor allem Hauptdarstellerin Ophélia Kolb, die diesen Film trägt und prägt. Wie die Französin als Jule alle Probleme weglächelt, obwohl sie permanent am Anschlag ist, und bei jeder sich bietenden Gelegenheit pure Empathie versprüht, das ist Kinomagie pur.
Einmal, da schnappt Jule in einem Büchlein den Satz auf: «Nur wer mutig ist, ist frei.» Und genauso lebt sie auch, mit einem scheinbar sorglosen Gemüt, das immer nur einen Wimpernschlag vom nächsten Weinkrampf entfernt ist.
Les Courageux
Regie: Jasmin Gordon
CH 2024, 80 Minuten
Ab Do, 13.3., im Kino