Kurz nach dem Ersten Weltkrieg ist man im englischen Küstenstädtchen Littlehampton um Ruhe und Ordnung bemüht. Doch eines Tages erhält ausgerechnet die frömmlerische Edith Swan (Olivia Colman) und später immer mehr Einwohnerinnen und Einwohner anonyme Post: Es sind Briefe voller obszöner Beleidigungen. Diesem historisch verbürgten Skandal, der in den 1920ern unter dem Namen «Seaside Mystery» ganz England in Aufruhr versetzte, widmet sich die britische Regisseurin Thea Sharrock in «Wicked Little Letters».
Unschwer zu erkennen: Die Komödie bietet weit mehr als ein unterhaltsames Whodunnit, wenn man die gesellschaftlichen Parallelen einrechnet. Zwar mögen die brieflichen Verwünschungen aus heutiger Sicht vergleichsweise harmlos anmuten. Damals war jedoch öffentliches Fluchen tabu – ganz besonders für Frauen. 100 Jahre später finden wir solche Fiesheiten nicht mehr in Briefen, sondern auf Social Media. Und auch da wird im Furor oft lieber nach Sündenböcken als nach Fakten gesucht.
Eine scheinheilige Gemeinschaft
In «Wicked Little Letters», dem Drehbuchdebüt des britischen Comedians Jonny Sweet, ist dieser Sündenbock schnell zur Hand: Als Briefschreiberin wird Edith Swans Nachbarin Rose Gooding (Jessie Buckley) verdächtigt, und zwar deshalb, weil die aus Irland zugezogene alleinerziehende Mutter ein loses Mundwerk besitzt und auch mal allein ins Pub geht.
Als die Aussenseiterin ohne stichhaltigen Beweis von der Polizei in Gewahrsam genommen wird und ihr sogar ein Prozess droht, tritt die Doppelmoral der scheinheiligen Gemeinschaft deutlich zutage. Die Einzige, die an der kollektiven Vorverurteilung zweifelt, ist die frischgebackene dunkelhäutige Polizistin Gladys Moss (Anjana Vasan). Sie ermittelt auf eigene Faust und mit bewundernswerter Selbstbeherrschung, aber ohne Chance gegen ihren Vorgesetzten.
Deshalb trommelt die Polizistin ein weibliches «Einsatzteam» zusammen, das die eigentliche Obszönitäten-Verfasserin überführen soll. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hat sich das kollektive Spiessertum im Film als patriarchales Ordnungssystem entlarvt. Das zeigt sich gerade bei Edith Swan, die als ältere Jungfer immer noch im Elternhaus wohnt und dabei den tyrannischen Anwandlungen ihres Vaters (Timothy Spall) ausgeliefert ist.
Olivia Colman brilliert in ihrer Rolle
Die familiäre Spannung ist der Kern dieser Komödie, und man kann hier die ganze schauspielerische Klasse von Oscarpreisträgerin Olivia Colman sehen. Zu Beginn flüchtet sich ihre Edith noch duckmäuserisch in allerlei christliche Merksprüche. Doch je länger die Gemeinheiten des Vaters dauern, desto öfter blitzen in ihrem Gesicht rebellische, genervte oder gar spöttische Züge auf.
Es ist der Anfang vom Ende einer heuchlerischen Zweckgemeinschaft.
Wicked Little Letters
Regie: Thea Sharrock
UK/F 2023, 101 Minuten
Ab Do, 28.3., im Kino