«Du bist eiskalt», sagt Pierre (Olivier Rabourdin) zu seiner Frau Anne (Léa Drucker), und da liegt eine Zweideutigkeit in seinen Worten, die den Zuschauer nicht zum ersten Mal in diesem Drama erschauern lässt. Meint Pierre die Körpertemperatur oder die berechnende Art seiner Frau?
Pikanter Hintergrund: Anne, die als Anwältin minderjährige Missbrauchsopfer betreut, hat sich in «L’été dernier» auf eine A!äre mit Pierres 17-jährigem Sohn Léo (Samuel Kircher) eingelassen, die sie in der Folge jedoch konsequent verleugnet.
Typisch Catherine Breillat, werden jetzt jene stöhnen, die sexuelle Gewalt und explizite Darstellungen für das zentrale Element im Werk der französischen Regisseurin halten. Hatte Breillat ihren bekanntesten Film «Romance» (1999) nicht mit Pornostar Rocco Si!redi gedreht?
Jede Wahrheit basiert auf einer Lüge
In «L’été dernier» – Breillats erstem Film seit über zehn Jahren – geht es jedoch um etwas anderes. Im Zentrum steht eine arrivierte Frau, die sich in ihrer bürgerlichen Familienexistenz mit zwei zauberhaften Adoptivtöchtern zu Tode langweilt. Und die auf Initiative des zu Beginn ausnehmend widerborstigen Stiefsohns eine Art zweite Jugend erlebt, wobei sie eine erste Jugend gar nie hatte.
Dass diese Lovestory, die auf dem dänischen Drama «Queen of Hearts» basiert, so fesselt, liegt nicht nur an der 75-jährigen Regisseurin – Breillat ist mittlerweile halbseitig gelähmt, aber künstlerisch topfit. Es liegt vor allem daran, dass hier jede Wahrheit auf einer Lüge basiert, echt ist bloss die Liebe.
Die wird wiederum grossartig inszeniert, wenn der Schauspieldebütant Samuel Kircher mit einer vor Lebensglück geradezu leuchtenden Léa Drucker zum Pas de deux ansetzt. Das ist besonders ergreifend, wenn die Schwierigkeiten überhandnehmen und sich Küsse mit Rotz und Wasser mischen.
L’été dernier
Regie: Catherine Breillat, F 2023, 104 Min., ab Do, 23.5., im Kino