kulturtipp: Ihr Film «Love Me Tender» handelte von einer jungen Frau, die aus ihrem Haus und ihrer Familie ausbrechen wollte. «Reinas» scheint nun das exakte Gegenteil zu sein ...
Klaudia Reynicke: Oh, daran habe ich gar nicht gedacht. Möglich, dass sich da unbewusst ein Gegenprogramm eingeschlichen hat. «Love Me Tender» war ja Individualismus pur mit einer Figur, die in einer Welt, die sie verstört, mit sich selbst kämpft. «Reinas» ist breiter angelegt, es ist eine Geschichte über zwei Mädchen, eine brüchige Familie, ein zerrissenes Land.
Der Film kommt sehr autobiografisch daher. Wie viel davon haben Sie wirklich erlebt?
Wahr ist, dass ich als Zehnjährige Peru verliess. Ich wuchs in der Schweiz mit meiner Mutter und meinem Schweizer Stiefvater auf, später in den USA, wo ein Grossteil meiner Familie lebt. «Reinas» ist aber nicht meine Lebensgeschichte. Es ging mir mehr um die Erkundung des Gefühls, ein Land verlassen zu müssen und einen speziellen Vater zu haben.
Haben Sie den oft abwesenden Vater Carlos im Film nach ihrem eigenen Vater modelliert?
Carlos ist charmant, kreativ und ein notorischer Lügner – genau wie mein biologischer Vater. Alle liebten ihn, aber er hatte nie den Mut, seine Rolle zu akzeptieren. Das kommt in Südamerika öfter vor. Carlos liebt seine Töchter und möchte eine schillernde Figur sein. Aber er hat keinen Job, kein Geld, kein Selbstvertrauen, und er tut, was in den 90er-Jahren halb Lima tat: mit Taxi fahren Geld verdienen. Sogar Ärzte und Anwälte mussten das tun. Es gab keinen anderen Weg.
Sie erzählen «Reinas» auf sehr realistische Art. Zugleich flüchten die Figuren in Fantasiewelten oder erzählen von einer spukenden Tante. Warum?
Ich wuchs in einer südamerikanischen Familie auf, in der Magie, Geister und Fantasy wie selbstverständlich zum Alltag gehören. Wir sprechen zwar nicht darüber, aber wir alle leben und träumen ziemlich verrückte Dinge und spielen jeden Tag dennoch unsere vorgegebenen Rollen. Fantasy ist eine Flucht, aber vielleicht ist es auch der einzige Weg, um mit den Frustrationen des Lebens fertig zu werden.
Sie beschreiben die 90er-Jahre in Peru anschaulich. Wie erlebten Sie jene Zeit?
Es war schlimm. Und es wurde immer schlimmer. Bis 1990 war der Linke Alan García Präsident. Wegen verschiedener Skandale flüchtete er anschliessend ins Ausland. Genau wie sein Nachfolger Alberto Fujimori, der sich während seiner Amtszeit zum Diktator wandelte und viele Menschen umbringen liess. Es gab ständig Bombenattentate.
Sie waren zu jener Zeit noch ein Kind.
Ja, aber ich hatte keine Angst, weil das schlichtweg die Realität war. Genau wie die Stromausfälle, die ich in «Reinas» zeige. Wenn das passierte, holte man einfach die Kerzen hervor. Alle wussten, wo die Kerzen sind. Man wusste bloss nicht, ob der Stromausfall eine halbe Stunde oder eine Woche dauert.
Ist es ein politischer Film?
Nein, das sollte er nie werden. Politik ist hier immer nur Kontext. Allerdings brauchte ich dafür einen Co-Autor und fand ihn in meinem Landsmann Diego Vega.
Warum?
Weil es nötig war, jemanden an Bord zu haben, der über die politischen und gesellschaftlichen Zustände im Land besser Bescheid weiss als ich. Mich selbst schätzen die Menschen dort nicht mehr als Peruanerin ein.
Aber Sie gingen zurück nach Lima und drehten den Film vor Ort. Wie war das?
Völlig verrückt. Präsident Pedro Castillo machte genau das, was Fujimori 1991 getan hatte: Er verübte einen Selbstputsch. Aber es klappte nicht, Castillo musste ins Gefängnis. Unterdessen wechselte seine Vizepräsidentin von der politischen Linken zur Rechten und wurde Präsidentin. Da ging es wieder los mit den Demonstrationen. Wir mussten jeden Tag damit rechnen, den Dreh abzubrechen, falls es zu gefährlich wurde. Überall wurden Protestierende umgebracht. Wir machten mit «Reinas» dasselbe durch, wie ich es als 10-Jährige erlebt hatte.
Ein umso schwierigeres Unterfangen, wenn zwei Halbwüchsige die Protagonistinnen sind.
Wir versuchten, sie so gut wie möglich zu schützen. Ich hatte aber insofern Glück, als dass Abril Gjurinovic und Luana Vega sehr gut miteinander auskamen.
Moment, Vega heisst doch auch ihr Co-Autor?
Ja, Luana ist die Tochter, allerdings nicht von Diego, sondern von seinem Bruder Daniel, der den Film produzierte.
Wie kam es dazu?
Ich suchte für die Rollen der beiden Hauptdarstellerinnen explizit nach Nicht-Schauspielerinnen.
Warum?
Weil es in Peru nur kommerzielle Filme, Serien oder Soap-Operas gibt. Das heisst, dass die Darsteller alle diesen übertriebenen, fast schon hysterischen Sprechmodus draufhaben. Erwachsenen Schauspielern kann man das mit Glück wieder abtrainieren, aber bei Kindern geht das nicht.
Wie rasch wurden Sie schliesslich fündig?
Ich fand mit Abril Gjurinovic die jüngere Schwester recht schnell, aber für den Teenager Aurora tauchte keine passende Darstellerin auf. Während eines Zoom-Calls mit Daniel Vega – es dauerte nur noch zwei Monate bis zum Drehbeginn – lief im Hintergrund plötzlich seine Tochter Luana durchs Bild. Ich sagte: «Daniel! Warum habe ich von ihr keine Bilder bekommen?» Das Problem war, dass Luana Kino hasste, da ihre Eltern beide im Filmbusiness arbeiten. Sie wollte lieber Ärztin oder Anwältin werden, etwas «Richtiges» halt.
Und wie haben Sie sie den noch überzeugt?
Indem ich Luanas beste Freundin als ihre beste Freundin im Film castete. Damit konnte ich sie locken. «Willst du nicht mal mit deiner Freundin ans Set gehen?», fragte ich. Luana wollte zwar ausdrücklich keine Schauspielerin werden, aber ihren Text hat sie aus eigenem Antrieb sofort auswendig gelernt. Sie war der perfekte Teenager und führte sich auch so auf. Da musste ich nur noch eines wissen.
Was?
Ich fragte, ob sie mit Leib und Seele dabei sei, denn ein Filmdreh sei nicht nur ein Vergnügen. Und sie sagte: «Erst war ich es nicht. Aber jetzt bin ich es ganz und gar.»
Zum Film «Reinas»
Reinas (Königinnen) – so nennt Carlos (Gonzalo Molina) seine Töchter Aurora (Luana Vega) und Lucia (Abril Gjurinovic). Doch er lässt sich kaum bei ihnen blicken. Erst als Carlos’ Ex-Frau Elena (Jimena Lindo) beschliesst, Peru mit den Töchtern zu verlassen und in die USA zu emigrieren, kommt Carlos öfter zu Besuch, um Zeit mit Aurora und Lucia zu verbringen. Aber wird er die Papiere unterschreiben, die seinen Töchtern die Ausreise erlauben?
Das autobiografisch inspirierte Drama «Reinas» erzählt mit viel Gefühl von einer bevorstehenden Trennung. Dabei verbindet die Regisseurin Klaudia Reynicke Aufbruchstimmung und Abschiedsmelancholie mit sicherer Hand. Der Film, der seine Premiere am renommierten Sundance-Festival feierte und am Locarno Film Festival den Publikumspreis gewann, steht aktuell in der Vorauswahl für die Schweizer Oscar-Eingabe 2025.
Reinas
Regie: Klaudia Reynicke
CH/Peru/Spanien 2024
104 Minuten, ab Do, 5.9., im Kino