«Es wird nie einfach», sagt der alte Lebensmittelhändler auf der schottischen Orkney-Insel Papay. «Es wird nur weniger schwer.» Für Rona (Saoirse Ronan) ist das Leben schwer genug. Nach zehn Jahren mit ausschweifenden Partys, zahlreichen Schrammen, Veilchen sowie einer Fast-Vergewaltigung in London macht die 29-Jährige einen Alkoholentzug und kehrt in ihre Heimat Orkney zurück.
Ein Wagnis von einem Film
Allerdings kennt sie dort niemanden mehr ausser ihren getrennt lebenden Eltern. Der Vater ist Schafzüchter, manisch-depressiv und haust vor lauter Geldsorgen im Wohnwagen. Die Mutter wurde in der Zwischenzeit zur christlichen Eiferin. Keine leichten Voraussetzungen, um wieder Fuss zu fassen und Teil einer – im Fall von Papay – klitzekleinen Gemeinschaft von wenigen Dutzend Einwohnern zu werden.
«The Outrun» ist ein Wagnis von einem Film. Aber die deutsche Regisseurin Nora Fingscheidt ist auf Abgründe der Gesellschaft und entsprechende Figuren spezialisiert. Unvergessen das unzähmbare Gör aus ihrem Film «Systemsprenger» (2019), das nun wie eine Seelenverwandte der älteren Rona erscheint.
Auch Rona gebärdet sich als Unangepasste, die manchmal schlicht nicht weiss, wohin mit ihrem Temperament. Sympathisch wirkt das nicht immer.
Die Figur ist biografisch grundiert, denn «The Outrun» ist eine Adaption von Amy Liptrots gleichnamigen Memoiren (auf Deutsch: «Nachtlichter»). Wobei die Autorin selbst am Drehbuch mitschrieb und sogar eine Rückfallszene einbaute, die es in Wirklichkeit angeblich nicht gab.
Dass die Filmfigur nicht Amy, sondern Rona heisst, erlaubte dem Team zusätzliche künstlerische Freiheiten. Das ist gut zu sehen, wenn Fingscheidt drei Zeitebenen ohne jeden Hinweis kunstvoll ineinanderwebt und man als Zuschauer bloss an der Haarfarbe von Saoirse Ronan erkennen kann, in welchem Stadium sich ihre Rona gerade befindet.
Vom Suchtproblem zum inneren Frieden
In diesen Momenten versprüht «The Outrun» eine hinreissende Poesie, schwankend zwischen epischen Landschaftsaufnahmen und extremen Close-ups. Das muss so sein, weil das fast dokumentarische Halb-Biopic im Grunde kaum eine Handlung hat. Ausser vielleicht, wenn Rona sich in Daynin (Paapa Essiedu) verliebt, der ihre Aussetzer jedoch je länger, je weniger aushält.
Das könnte man traditionell nennen, dennoch ist «The Outrun» so ganz anders als herkömmliche «Problemfilme». Die Orkney-Inseln, die raren Wachtelkönige, denen sich Rona widmet, die Seehunde samt zugehörigem Mythos über Ertrunkene, welche als Mischwesen zwischen Land und Wasser wechseln – all das fügt Fingscheidt zu einem sinfonischen Ganzen.
Dass «The Outrun» Sucht thematisiert, ist indes nur die halbe Wahrheit. Vielmehr verfolgt dieser Film einen in seiner Intensität flackernd-poetischen Heilungsprozess. Und da gibt es einen besonders ergreifenden Moment, als Rona ins eiskalte Meer steigt und sich dabei ganz langsam so etwas wie innerer Frieden ankündigt.
The Outrun
Regie: Nora Fingscheidt
UK/D 2024, 118 Minuten
Ab Do, 21.11., im Kino