Wenn Regisseur Sean Baker von etwas besessen ist, dann vom American Dream. Über diesen kann der 53-Jährige umso prägnanter fabulieren, je weiter der Traum von seinen Figuren entfernt scheint.
So war das jedenfalls in seinem Film «The Florida Project» (2017): Baker erzählte da aus Kinderperspektive von Underdog-Familien, die in Billigabsteigen hausen, die einst als Unterkünfte für das benachbarte Disney World dienten.
Vom US-amerikanischen Traum zum Albtraum
In «Anora» hat sich der Fokus des US-Amerikaners nun in Richtung «Pretty Woman» verschoben. Seine 23-jährige Titelfigur (Mikey Madison), die sich Ani nennt, arbeitet in einem New Yorker Stripclub. Wenn sie ihre Runden durchs Lokal zieht auf der Suche nach Lapdance-Interessenten, tut sie das mit einer unverschämten Lockerheit und Überzeugungskraft.
Da Ani etwas russisch spricht, weckt sie das Interesse des russischen Oligarchensohns Wanja (Mark Eydelshteyn), der sie in seiner kindlich-überdrehten Art bald in die Protzvilla seiner abwesenden Eltern einlädt – für Sex gegen ein fürstliches Honorar. Und siehe da: Das Arrangement zwischen den gegensätzlichen Twens entwickelt sich so gut, dass sie sich bei einem Ausflug nach Las Vegas spontan zur Hochzeit entscheiden.
In «Anora» ist das der Moment, in dem die «Pretty Woman»-Story kippt und sich in einen Albtraum verwandelt. Denn Wanjas Eltern in Russland sind von der Hochzeit alles andere als begeistert. Sie chartern einen Privatjet und schicken in der Zwischenzeit Wanjas Patenonkel Toros (Karren Karagulian) mit zwei armenischen Schlägern vor, welche die Operation Eheannullation an die Hand nehmen sollen.
Da wandelt sich die bis dahin überschäumende Party-Romcom zum chaotischen Mafia-Roadmovie quer durch Brighton Beach. Der Grund: Wanja ist die Flucht gelungen, und ausgerechnet Ani soll den Häschern helfen, ihn wiederzufinden, während sie selbst sich fragen muss, wie sehr sie noch an die Ehe mit diesem Kindskopf glaubt.
Mikey Madison geht an ihre Grenzen
Ein starkes Stück. Gerade weil man bei «Anora» nie weiss, welchen Tonfall Sean Baker als Nächstes anschlagen wird. Die drei Handlanger (einer davon ein Pfarrer, der eine Taufzeremonie platzen lässt) sind alle auf ihre Art verpeilt. Nur Ani scheint eine ehrliche Haut zu sein, und sie kämpft mit allen Mitteln gegen die Annullation ihres vermeintlichen Lebenstraums.
«Anora», in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, verdankt seine Kraft der überragenden Mikey Madison («Better Things», «Once Upon a Time in … Hollywood»). Sie geht physisch und psychisch an die Grenzen, was über ein paar unnötige Dehnungen in diesem über zweistündigen Werk hinwegsehen lässt.
Indem «Anora» im Fahrwasser verschiedener Genres schwimmt, garantiert er dem Publikum jedoch ein rar gewordenes Erlebnis in US-amerikanischen Filmen – grösstmögliche Unberechenbarkeit. Also praktisch das Gegenteil von «Pretty Woman».
Anora
Regie: Sean Baker, USA 2024
139 Min., ab Do, 31.10., im Kino