«Spazieren heisst: Aneignung der Welt. Den Zufall preisen. Unheil durch Abwesenheit verhindern. Mit den Bienen sprechen, obwohl man dafür schon etwas zu reif ist.» Mit diesen Worten beschreibt der 87-jährige Zbinden in Christoph Simons Roman die Kunst des Spazierens, während er mit dem Zivildienstleistenden Kâzim langsam die Treppen im Altersheim erklimmt. Mit Zbinden hat Christoph Simon einen Spaziergänger in der Tradition von Robert Walser oder Gerhard Meier erschaffen, der sich die Welt mit allen Sinnen aneignet.
Inspirierende Begegnung mit Gerhard Meier
Der Autor und Kabarettist Christoph Simon lacht, als er beim gemeinsamen Flanieren unter den Lauben in der Berner Altstadt auf die Worte seines Protagonisten angesprochen wird: «Idealerweise nimmt der Spaziergänger alles auf – Farben, Formen, Stimmungen. Aber ich muss zugeben, dass ich selbst manchmal halbblind durch die Welt laufe.» Mit einer ausladenden Handbewegung weist er auf die schmucken Häuser ringsum: «Mit einem Gast schaut man aber wieder bewusster auf die Stadt.» Die Idee des spazierenden Poeten, der alles aufsaugt, um danach am Schreibtisch die Eindrücke in kräftigeren Formen als Kunstwerk umzusetzen, funktioniere bei ihm allerdings nicht. «Aber mir gefällt gerade das Plan- und Ziellose, das Subversive am Spazieren. Man muss nichts – und das ist ein befreiender Gedanke.»
Diese Ansicht könnte seine Figur Zbinden wohl teilen. Der alte Mann erzählt dem jungen Kâzim im langsamen Voranschreiten sein Leben und die berührende Liebesgeschichte mit seiner inzwischen verstorbenen Emilie. Literarisches Vorbild für Zbinden war der Schriftsteller Gerhard Meier (1917–2008). Christoph Simon hat den damals 89-Jährigen 2006 im Garten seines Bauernhauses im bernischen Niederbipp besucht – «ohne Voranmeldung und inklusive um den Bauch gebundenen Säugling», erzählt der dreifache Vater, während wir durchs Altenberg-Quartier zur grün glitzernden Aare gelangen. «Diesem weisen alten Mann zuzuhören, war eine grosse Inspiration», sagt der Berner. Beim Schreiben an seinem Roman habe er Gerhard Meier vor sich gesehen – und sich selbst in der Rolle des Zuhörers Kâzim.
Bodenhaftung und innere Stille
Gerhard Meier war selbst ein passionierter Spaziergänger. «Meine besten Texte habe ich vermutlich auf meinen Wanderungen in den Wind geschrieben», sagte er in den «Amrainer Gesprächen» zu Schriftstellerfreund Werner Morlang. In seinem Hauptwerk, der «Amrainer Tetralogie», lässt er die beiden alten Freunde Baur und Bindschädler philosophierend durch Olten flanieren.
Das Denken im Gehen gehörte auch für den Bieler Autor Robert Walser (1878–1956) zum täglichen Ritual. Am schönsten beschreibt er dies in seiner bekanntesten Erzählung, «Der Spaziergang» von 1917, in der er einen melancholischen Poeten beobachtend und kommentierend durch die Gegend streifen lässt. «Spazieren muss ich unbedingt, um mich zu beleben und um die Verbindung mit der lebendigen Welt aufrechtzuerhalten, ohne deren Empfinden ich keinen halben Buchstaben mehr schreiben und nicht das leiseste Gedicht in Vers oder Prosa mehr hervorbringen könnte», lässt Walser seinen Ich-Erzähler sagen.
Die Liste der flanierenden Poeten ist lang – und männlich geprägt. Frauen, die allein im öffentlichen Raum unterwegs waren, haftete früher ein anrüchiges Image an. An die Flâneusen wie etwa Virginia Woolf erinnert Lauren Elkin im Buch «Flâneuse. Frauen erobern die Stadt – in Paris, Tokyo, New York, Venedig und London». «In den Strassen schürfte Woolf nach Drama, und sie füllte ihre Bücher mit den Menschen, vor allem den Frauen, die sie dort beim Vorübergehen, Arbeiten, Pausieren beobachtete», schreibt Elkin.
In schnelllebigen Zeiten, in denen «Achtsamkeit» zum neuen Trend geworden ist, steht beim Spazieren weniger das Beobachten als die Selbstwahrnehmung im Vordergrund. Bücher wie Erling Kagges philosophische Anleitung «Gehen. Weiter gehen» boomen. Mit seiner schlichten, klaren Sprache und zahlreichen Beispielen aus Literatur, Philosophie und Wissenschaft hebt er sich aber von der gängigen Ratgeberliteratur ab. Der 55-jährige norwegische Autor, Verleger und Abenteurer hat den Süd- und den Nordpol erwandert, den Mount Everest bestiegen und ist auch in Oslo stets gehend unterwegs. In seinem neuen Buch beschreibt er die Bodenhaftung und die innere Stille, die durch das Gehen entstehen: «Für eine Weile vergisst du den Rest der Welt. Vergangenheit und Zukunft spielen kaum eine Rolle, solange man einen Fuss vor den anderen setzt.»
«Spazieren, um zu sich zu finden, kann auch eine Art Weltflucht sein», findet hingegen Christoph Simon bei einer Pause auf einer Holzbank und schaut auf die träge vorbeifliessende Aare. Sein Spaziergänger Zbinden ist am liebsten zu zweit unterwegs: «Zu den Vorteilen des geselligen Spazierens gehört, dass man nicht so leicht von sich selbst behelligt wird.» Statt der Innenwahrnehmung will er seine Gedanken und seine Beobachtungen mit anderen teilen. Zbinden sagt aber auch: «Spazieren heisst: Herauszufinden, wer man ist, und zu mögen, was man dabei entdeckt.»
Spaziergänger mit Leidenschaft
«Ohne Spazieren wäre ich tot, und mein Beruf, den ich leidenschaftlich liebe, wäre vernichtet.»
Robert Walser, «Der Spaziergang»
«Gedanken wollen oft – wie Kinder und Hunde –, dass man mit ihnen im Freien spazieren geht.»
Christian Morgenstern, Aphorismen
«Ich glaube, dass ich meine körperliche und geistige Gesundheit nur bewahre, indem ich täglich mindestens vier, gewöhnlich jedoch mehr Stunden damit verbringe, absolut frei von allen Forderungen der Welt durch den Wald und über Hügel und Felder zu schlendern.»
Henry David Thoreau,
«Vom Spazieren»
«Es ist eigentlich alles Bewegung. Ich glaube, Poesie, das ist nichts. Bewegung ist alles.»
Gerhard Meier, «Toteninsel»
«Für Karrer war das Gehen Anlass und Ausdruck seiner Denkbewegung. Mit Karrer zu gehen, ist eine ununterbrochene Folge von Denkvorgängen gewesen.»
Thomas Bernhard, «Gehen»
«Besser laufen als faulen.»
Johann Wolfgang von Goethe, «Reineke Fuchs»
«Alle meine Gänge waren verschieden, aber wenn ich zurückblicke, entdecke ich eine Gemeinsamkeit: eine innere Stille. Gehen und Stille hängen zusammen. Stille ist abstrakt, Gehen ist konkret.»
Erling Kagge, «Gehen. Weiter gehen»
Bücher
Christoph Simon
Spaziergänger Zbinden
Ersterscheinung: 2010
Neu erhältlich als Taschenbuch im Unionsverlag
Lauren Elkin
Frauen erobern die Stadt – in Paris, Tokyo, New York, Venedig und London
400 Seiten
(btb 2018)
Erling Kagge
Gehen. Weiter gehen – Eine Anleitung
160 Seiten
(Insel Verlag 2019)
Szenische Lesung mit Musik
Robert Walser: Der Spaziergang
Mit Ueli Jäggi und Jürg Kienberger
Mi, 24.4., 20.30
Schauspielhaus Zürich