Ein Rauschen, an- und abschwellend. Menschliche Stimmen, ein Keuchen, ein Glöckchen läutet, Schafe blöken. Ein tieftöniges Pulsieren, ein Wummern und Brummen. Ein Hüttenfeuer knistert, Feuerwerkraketen knallen. Der Berg grollt, sirrt, poltert, Wasser plätschert. Seismische Wellen dehnen sich aus. Töne werden geschichtet, wechseln sich ab. Bis alles verebbt nach 36 Minuten und ausklingt. Der Berg hat getönt.
Der Vorderglärnisch ist ein Gebirgsstock im Glarnerland, zwischen Klöntal und Linthtal. Er erhebt sich als imposanter Berg direkt über dem Hauptort Glarus. Hier hat Claudio Landolt von März bis Oktober gut 100 Stunden Tonmaterial gesammelt für sein Projekt «Vorderglärnisch» – Field-Recordings, wie der Fachbegriff für «Feldaufnahmen» lautet. Die auditiven Fundstücke aus der Natur sammelt, ordnet und bearbeitet er und lässt sie in eine komponierte Klangcollage münden.
Faszinierend und mysteriös zugleich
Das Klangstück ist als Landolts Masterarbeit in Kulturpublizistik an der Zürcher Hochschule der Künste entstanden. Es galt, den Berg akustisch zu erkunden, mit dem Resultat eines faszinierenden und mitunter mysteriösen Klangstücks, bei dem es stets spannend bleibt und man rätseln kann, was für Töne da wohl hörbar werden.
Der 1984 geborene Glarner hat Kulturpublizistik und elektroakustische Komposition studiert, er ist seit längerem als Musiker aktiv und arbeitet als Musikredaktor bei Radio SRF 3. Und er ist Autor. Als solcher hat er parallel zu seinem Klangstück literarische Texte geschrieben, mit denen er dem Berg das Poetische abgewinnt. Diese Prosa-Miniaturen und Gedichte spüren ebenfalls dem Klang des Berges nach. Etwa wenn er zahllose Flurnamen alphabetisch reiht, von «Acherli» über «Ob der Wand» und «Stögg» bis «Würzenstützli».
Eine Geschichte für den «Mungg»
Unter dem Titel «77 000 Hertz» ist die Ornithologie an der Reihe: «Das schrille Pfeifen, das an einer Felswand unter der Nordflanke aufgenommen wurde, erinnert an den Ruf des Schwarzmilans.» Eine schöne Geschichte ist dem «Mungg» gewidmet. Auf dem Weg, der sich besonders gut eignet, um die Vibrationen des Berges zu messen, begegnet dem Erzähler bei einer Hütte nicht nur das fellige Tier in Gestalt einer Holzskulptur. Zum geschnitzten Exemplar gesellt sich ein leibhaftiges, das hier sein Unwesen treibt: Der Mungg «hat die Kabel angebissen und über die Aufnahmestation uriniert und geschissen».
Eine schlichte Hommage von Claudio Landolt an «seinen» Berg in wenigen Worten fehlt nicht. Die grosszügige Buchgestaltung verteilt den Zweizeiler auf eine linke und eine rechte Seite: «Ich liebe dich, du alter Chlotz. / Wie du so dasitzt und so tust, als wärst du gar nicht da.»
Buch / Kassette / Download
Claudio Landolt
Nicht die Fülle / nicht Idylle / nicht der Berg
Vorderglärnisch. Bergporträt
Nachwort: Peter Weber
80 Seiten + Download/Musikkassette
(Der gesunde Menschenversand 2021)
www.vorderglaernisch.com