Eigentlich ist schon der Anfang eines Konzerts etwas Einmaliges: Die Vorfreude des Publikums dröhnt als Mix aus Pfiffen und Brüllern durchs Stadion, wird zum Toben, wenn die Musiker die Bühne betreten, und entlädt sich mit der einsetzenden Musik in der Ekstase.
Auch das Album «Live at Wembley Stadium» von Blur fängt einen solchen Moment ein. Die englische Band feierte im Sommer 2023 nach acht Jahren Pause ihre Rückkehr mit zwei Auftritten in London.
Streaming hat den Livealben zugesetzt
Die Freude am Wiedersehen war beim Publikum wie auch bei Blur gross, das hört man in den ersten Sekunden der Aufnahme. Dass die Band ihre ReunionGigs jetzt so veröffentlicht, ist dennoch bemerkenswert. Livealben sind in den vergangenen Jahren zur Seltenheit geworden.
Dabei gehörte das Format einst fix zu Pop und Rock. Johnny Cashs «Live at Folsom Prison» und Joni Mitchells «Miles of Aisles», «Under a Blood Red Sky» von U2 und «MTV Unplugged in New York» von Nirvana – diese Langspieler fingen nicht nur Konzerte, sondern Höhepunkte und Scheidewege von Künstlern ein. Wohl deshalb wurden sie für ganze Generationen zu Wegmarken.
Selbstverständlich könnte man viele weitere solche Alben aufzählen, aber das würde ausufern wie die Live-Improvisationen von Grateful Dead. Interessanter ist hingegen die Frage, weshalb das Livealbum an popkultureller Relevanz eingebüsst hat. Die Antwort liefert ein Blick auf eine Musikindustrie, die sich in den vergangenen 20 Jahren stark verändert hat.
Streaming und Social Media haben dem Album als Format die Bedeutung geraubt. Längst gibt es im Pop und Hip-Hop Labels, die nur noch auf Singles setzen: Weshalb in die Produktion von zwölf Liedern investieren, wenn eh kaum noch jemand Musik kauft? Lieber einen knackigen Song veröffentlichen, der es hoffentlich in die Playlist eines Streaminganbieters schafft oder ein Tiktok-Hit wird.
Auf CD, Vinyl und sogar als Kassette veröffentlicht
Gleichzeitig hat Youtube die Livekultur verändert. Handyvideos tauchen schon kurz nach einem Konzert auf – wie früher Bootleg-Aufnahmen. Die Künstler wiederum nutzen die Plattform für Werbung. Sie veröffentlichen die schön gefilmte Liveversion eines Hits, um die Fans bei der Stange zu halten. Und mit Auftritten in beliebten Internetformaten wie «Tiny Desk Concerts» des Radiosenders NPR Music erreichen sie längst ein Millionenpublikum.
Das konventionelle Livealbum hat es da schwer. Umso schöner, dass Musiker wie Blur das Format pflegen. «Live at Wembley Stadium» erscheint auf CD, Vinyl und sogar als Kassette. Und es verdeutlicht, was den Charme eines guten Livealbums ausmacht: Es ist nicht bloss Aufzeichnung, sondern Vehikel einer Konzertatmosphäre.
Die Patzer der Band werden da ebenso transportiert wie die ungehemmte Emotionalität des Publikums. Die rohe Intensität einer London-Ballade wie «Under the Westway» und die anstachelnde Energie von «Song 2». Und wenn Zehntausende im Refrain «Woohoo!» brüllen, brüllt man auch zu Hause mit. Das Wohnzimmer ist ein Stadion, "Woohoo"!
Album
Live at Wembley Stadium
(Warner 2024)