In Bordeaux war Schluss. Mitten im Soundcheck erfuhren die Tindersticks von den verschärften Corona-Massnahmen. Von einem Moment auf den anderen war die Tour zum 2019 veröffentlichten Album «No Treasure But Hope» futsch. Dieses zwölfte Studioalbum der Briten war ein stringentes, Moll- und Pathos-lastiges Stück Kammerpop. Nun, ein Jahr nach dem Tourstopp, erscheint bereits die nächste Platte «Distractions», ein entfesselter Ritt durch den Lockdown und zugleich eine Reise durch die Arbeit der Band.
«Jede Note erfüllt einen Zweck»
1991 wurde sie in Nottingham gegründet, Mitglieder kamen und gingen, Bandleader Stuart Staples blieb. Doch auch ihn, den Fels in der Brandung dieser Truppe, warf die Absage von unzähligen Konzerten aus der Bahn. Exakt dann, als das Energielevel hochgepusht war, kam es zum abrupten Stillstand. Und irgendwo musste das angestaute Feuer hin. «Jetzt sehe ich, was für ein Kampf es für mich war, dieses Album zu machen. Wenn man kämpfen muss, braucht man etwas wirklich – und dieses Verlangen höre ich dem Album an», sagt der 55-Jährige rückblickend.
«Distractions» beginnt ungewohnt: Im 11 Minuten langen «Man Alone (can’t stop the fadin’)» bekommt eine knackige, elektronische 4/4-Bassdrum ihren grossen Auftritt, Staples intoniert dazu mäandernde Botschaften, die sich hypnotisch überlagern. «Ich wollte, dass die Worte wie vorbeiziehende Gedanken unterwegs sind, was eine neue Art des Schreibens nötig machte: obskurer, widersprüchlicher, mehrdeutiger», sagt Staples über diesen musikalischen Trip.
Danach kehrt Ruhe ein, man besinnt sich auf Bewährtes: solides Songwriting, intime Texte, sorgsame Instrumentierung mit Drums, Streichern, Synths und Piano. «Das Album ist so schlank und zurückgenommen, es gibt keine Verzierungen, jede Note erfüllt einen Zweck», beschreibt Stuart Staples das stimmungsvolle Resultat. Von April bis Juli arbeitete der Mann mit dem imposanten Schnäuzer alleine in seiner Wahlheimat im ländlichen Frankreich. Er legte Rhythmusspuren vor, spielte die Bassgitarre ein. Ideen und Skizzen wurden digital ausgetauscht. Nur übers Netz zu kommunizieren und aus der Ferne aufzunehmen, wurde aber früh ausgeschlossen. Als im August 2020 die Massnahmen gelockert wurden, traf man sich im Studio, um alles «hektisch» zusammenzuführen.
Auf Französisch singt Staples über den Terror
Neben einem Song, in dem Staples auf Französisch die Anschläge in Paris und Manchester thematisiert («Tue-Moi»), findet auch ein mit angezogener Handbremse gespieltes Cover von Neil Youngs «A Man Needs a Maid» Platz. Beim Hören kann man sich Songwriter Staples nur zu gut vorstellen, wie er mit geschlossenen Augen auf der Bühne ins Mikrofon haucht.
Für solche Live-Momente, in denen er in der Musik aufzugehen scheint, muss man sich wohl noch länger gedulden. Stuart Staples stört das nicht. Denn nebenbei macht er Filmmusik, in die er sich nun verkriechen kann. Und dann, nach der Pandemie, kehrt er bestimmt mit frischer Energie zurück auf die Bühne.
Tindersticks
Distractions
(City Slang 2021)