Man kann wohl ungeniert sagen, dass Harlan Howard der Albert Einstein der Countrymusik war. Wie der Physiker war nämlich auch der Songwriter ein Freund eleganter mathematischer Gleichungen. «Drei Akkorde + Wahrheit = gelungenes Lied», besagt etwa das erste harlansche Gesetz des Country. Seither haben Folkbarden wie Bob Dylan, Soul-Männer wie Van Morrison und die Punks an der Songwriting-Gleichung weitergetüftelt – heute ist Harlans viel zitierter Satz eine Art Weltformel des engagierten Liedes.
Nun gab es im Pop und Rock ja schon immer auch Raum für Seichtes – und das ist gut so. Doch eine Reihe von Studien aus den letzten zehn Jahren legt nahe, dass populäres Liedgut immer oberflächlicher geworden ist. Die jüngste davon kam im vergangenen Frühjahr heraus und stammt von Musikwissenschaftern in Nürnberg.
Über 350 000 Pop-, Rock-, Hip-Hop- und Country-Songs hat die Forschergruppe auf ihre Textstruktur hin untersucht. Die Resultate liessen sich schon kurz nach der Veröffentlichung in Musikmagazinen und Feuilletons nachlesen: Liedtexte sind in den letzten 50 Jahren simpler, repetitiver und stärker ich-bezogen geworden. Die Kulturpessimisten sahen sich einmal mehr bestätigt: Was im Radio läuft, ist eh nur noch einfältiger Quatsch!
Streamingkultur diktiert simple Songstrukturen
Tatsächlich hat sich die Art und Weise, wie heute Songs geschrieben werden, in den letzten zwei Jahrzehnten noch einmal verändert. Streamingdienste, Algorithmen und Social Media verlangen nach Liedern, die sich innert weniger Sekunden in
den Gehörgängen einer sowieso schon übersättigten Hörerschaft festkrallen.
Also verpassen die Produzenten den Songs eingängige Melodienphrasen und sich ständig wiederholende Liedzeilen. Wer ab und zu in die Single-Charts auf MTV zappt, dem stellt sich bisweilen durchaus die Frage: Gibt es im modernen Pop, Rock oder R ’n’ B überhaupt noch Platz für Tiefe, für Gesellschaftskritik gar?
Selbstverständlich gibt es das. Wer sich die Nürnberger Studie genauer ansieht, wird auf allerlei Differenziertes wie Genreunterschiede und verschiedene Hörgewohnheiten stossen. Zudem darf Selbstbezogenheit nicht mit oberflächlicher Selbstverliebtheit gleichgesetzt werden.
Bestes Beispiel dafür ist Sam Fender. Der 30-jährige Sänger aus dem nordostenglischen North Shields hat sich mit seinen autobiografischen Songs weit über die Grenzen Grossbritanniens hinaus zum Publikums- und Feuilletonliebling gesungen. Fender schreibt hymnischen Heartland-Rock und Texte, die an den Spülbecken-Realismus von Filmregisseur Ken Loach erinnern. Immer wieder geht das durch Mark und Bein.
Autobiografische Texte, sozialkritische Untertöne
Im Song «Dead Boys» vom Debütalbum «Hypersonic Missiles» von 2018 trauert Fender um einen verstorbenen Freund und vertont zugleich eine traurige Statistik: Die Heimat des Sängers gehört zu jenen Regionen des Vereinigten Königreichs mit den höchsten Suizidraten bei Männern.
«Seventeen Going Under» wiederum, das Titellied des zweiten Albums, klingt wie das Tagebuch von Fenders eigener verkorkster Jugend: Perspektivlosigkeit und Drogen, Mobbing und Gewalt, Schulden und eine chronisch kranke Mutter, die Behördenwillkür ausgeliefert ist. «Ich sehe meine Mutter / die Sozialbehörde sieht nur eine Nummer.» Das Lied wurde 2021 zur Hymne einer ganzen Generation junger Britinnen und Briten.
Auf seinem jüngst erschienenen, wunderbaren dritten Album «People Watching» ist der Singer-Songwriter ruhiger geworden. Doch für Gesellschaftskritik hat er auch jetzt noch die eine oder andere Zeile übrig. «Ich versprach ihr, sie aus dem Pflegeheim zu holen / der Ort war am Zerfallen / unterbesetzt und verwaltet von herzlosen Händen» – das Titelstück ist Fenders Hommage an eine Familienfreundin und Mentorin, aber eben auch bitterer Abgesang auf ein kaputtgespartes Gesundheitswesen.
Ist Sam Fender der melancholische Geschichtenerzähler, sind seine Landsfrauen von den Lambrini Girls kämpferische Demo-Teilnehmerinnen. Das Punkduo aus dem südenglischen Brighton veröffentlichte jüngst sein Debütalbum «Who Let the Dogs Out», hatte sich zuvor aber schon auf den Clubbühnen eine treue Anhängerschaft erspielt. Denn die Lambrini Girls bestechen mit ihrem krud gezimmerten Sound aus Rumpelschlagzeug, brummendem Bass und aufgekratzter Gitarre.
Darüber brüllt Sängerin Phoebe Lunny voller Ironie und Biss Texte über die frauenfeindliche Arbeitswelt, Vetternwirtschaft im Musikgeschäft sowie das horrende Armutsgefälle in Grossbritannien: «Banker bezahlen keine Steuer / Grossmutter kann sich das Heizen nicht leisten.» Wie kann man sich von solchen Demonstrationsrufen nicht mitreissen lassen?
Gesellschaftskritische Songs werden zu Hymnen
Mit ihrer Geradlinigkeit sind die Lambrini Girls und Sam Fender längst nicht allein. Klimademos und Wirtschaftskrise, Black Lives Matter und die Me-too-Bewegung haben in den letzten rund zehn Jahren eine neues Songbook von gesellschaftskritischen Liedern hervorgebracht.
In den USA wurde «Alright» von Rapper Kendrick Lamar zur Hymne einer neuen schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Im Vereinigten Königreich besingen Bands wie Idles oder Sleaford Mods die Folgen der jahrelangen Austeritätspolitik. Und die Berliner Songwriterin Dota lieferte in Deutschland mit «Keine Zeit» den Soundtrack zu den Klimaprotesten.
Ebenfalls in die Tradition der politischen Liedermacher reiht sich Bibiza ein. Dem Rapper und Sänger aus Wien gelang der Durchbruch zunächst als Dandy. Auf seinem zweiten, Ende 2024 erschienenen Album «Bis einer weint» klingt der Lebemann aber nachdenklicher, singt auf einmal über Klimakrise und Konsumkultur, weibliche Selbstbestimmung und die europäische Abschottungspolitik.
Seine Debattenbeiträge aus grobschlächtigem Elektropop und Wiener Schmäh zeichnen das Sittengemälde einer Gesellschaft zwischen Apokalypse und Hedonismus: «Die Donau wird bald übergehn / Sie macht vor nix und niemand halt / Oh, was eine Naturgewalt! / Das wäre sehr nett ein Glaserl jetzt.»
Und wahrlich: Wer nicht verzweifeln will, dem bleibt nur anzustossen: auf das engagierte Lied. Es lebt und tut, was es schon während der weltweiten Bürgerrechtsbewegungen der 1960er und 1970er am besten konnte: Es mobilisiert die Menschen, stösst Debatten an oder hält sie am Leben. Es sorgt für ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, spendet Hoffnung oder ist auch mal nur Ventil. Es braucht selten mehr: drei Akkorde und die Wahrheit – drei Akkorde und viel Wut.
Alben
Sam Fender
People Watching
(Polydor 2025)
Lambrini Girls
Who Let the Dogs Out
(City Slang 2025)
Bibiza
Bis einer weint
(Columbia 2024)