Comic: Visionäres zur digitalen Welt
Der Zürcher Matthias Gnehm (*1970) ist studierter Architekt und hat mit seinen Comicarbeiten immer wieder originelle Geschichtenuniversen kreiert. Sein jüngstes Werk «Gläserne Gedanken» thematisiert gescheit ein Problemfeld des digitalen Zeitalters und ist formal passend umgesetzt: Es präsentiert sich auf 640 einspaltigen Druckseiten als fortlaufendes Bilderband. Diese analoge Art simuliert das Scrollen auf einem Display. Die Geschichte liest sich nicht von links nach rechts, sondern von oben nach unten, wie auf einem Smartphone. Schauplatz ist eine grau gezeichnete, als Zürich erkennbare Stadt. Hier leben Markus und Annina in einer problembeladenen Beziehung. Er ist ein Autor, der seine Texte nicht schreibt, sondern diktiert. Über eine Freundin, anfällig für Verschwörungsmythen, lernen sie den Mitarbeiter eines Tech-Start-ups kennen. Die Firma entwickelt ein Gedankendiktiergerät. Eine solche Erfindung würde letztlich auch die Gedanken der Menschen anzapfen können und für andere erkennbar machen. Eine intelligent umgesetzte Zukunftsvision, von der die Menschheit gar nicht so weit entfernt ist.
Matthias Gnehm
Gläserne Gedanken
640 Seiten
(Edition Moderne 2022)
Comicbiografie: Die unermüdlich Suchende
Sie lebte gegen alle Konventionen: die Schweizer Schriftstellerin, Journalistin und Fotografin Annemarie Schwarzenbach (1908–1942). Aufgewachsen als Tochter einer Industriellenfamilie am Zürichsee, schien sie in ihrem Elternhaus nie richtig Halt gefunden zu haben. Früh verliess sie die Schweiz, studierte in Paris und Berlin. Später reiste die Rastlose mit dem Auto durch den Orient, den Kongo und die USA. Zwei Spanierinnen haben sich nun in der eindrücklichen Comicbiografie «Annemarie» mit dem Leben der Schweizerin auseinandergesetzt. Illustratorin Susanna Martín und Philologin María Castre-jón gehen dabei auf einer sehr emotionalen und persönlichen Ebene auf Schwarzenbach ein. Sie thematisieren ihre Homosexualität, ihre psychischen Probleme, ihr angespanntes Verhältnis zur Mutter und vieles mehr. Zeichnungen, Originalfotos und Briefauszüge zeigen die Verletzlichkeit einer selbstbewussten jungen Frau. Es sind mitunter stark berührende Bilder, welche die Zerrissenheit Schwarzenbachs deutlich machen und Themen aufgreifen, die noch heute genauso unter der Haut brennen wie damals.
María Castrejón / Susanna Martín
Annemarie
164 Seiten
(Lenos 2022)
Krimi: Mord in der Familie
Im Zweiten Weltkrieg internierten die Briten deutsche Kriegsgefangene in den schottischen Highlands. Erfolgsautor Ian Rankin hat diese historische Episode als Hintergrund für den 23. Fall von Inspektor Rebus gewählt. Der gutmütige Ermittler aus Edinburgh ist längst pensioniert. Doch wie es das Schicksal will, kommt er immer wieder zum Einsatz. Diesmal meldet sich Rebus’ Tochter Samantha und eröffnet ihm, dass ihr Mann Keith verschwunden ist. Rebus ist beunruhigt, weil er weiss, dass Samantha eine Hauptverdächtige sein wird, falls ihrem Ehemann etwas zugestossen sein sollte. Denn das Verhältnis der beiden war ruppig. So tuckert Rebus in seinem Saab nordwärts Richtung Tongue, wo sich das Kriegsgefangenenlager Camp 1033 befunden hat. Keith war fasziniert von dessen Geschichte, und Rebus entdeckt dort prompt seine Leiche. Kurz darauf macht er Bekanntschaft mit Jimmy, dem Enkel eines deutschen Internierten, der Rebus an den Kragen geht. Auch in diesem Krimi kommen Rankin-Fans voll auf ihre Rechnung. Zumal der Autor die Handlung wieder mit süffigen Intrigen und Liebesgeschichten im Polizeimilieu garniert.
Ian Rankin
Ein Versprechen aus dunkler Zeit
Aus dem Englischen von Conny Lösch
512 Seiten
(Goldmann 2022)
Roman: Überraschende Bögen
Kim ist 15 und hat ihren Vater noch nie gesehen. Dies ändert sich abrupt, als ihre Mutter sie für den Sommer bei ihrem Erzeuger abstellt. Kim merkt bald, dass dieser gar nicht so übel ist. Allerdings auch, wie unbeholfen er durchs Leben geht. Als Verkäufer von schrecklichen Markisen putzt er Türfallen – ohne grossen Erfolg. Kim beschliesst, ihm zu helfen. Eine wunderschön erzählte Geschichte, die zwischen Pubertät und Älterwerden überraschende Bögen spannt.
Jan Weiler
Der Markisenmann
336 Seiten
(Heyne 2022)
Roman: Bedingungslose Freundschaft?
Ein Mann wird des Mordes angeklagt und erhält lebenslänglich. Während des endlosen Indizienprozesses kämpfen seine Freunde für den Angeklagten. Sie sind überzeugt: Er ist unschuldig. 15 Jahre später nimmt sich eine Journalistin des Urteils an und stellt die Frage nach Loyalität und Freundschaft neu. Der Krimi von Christoph Poschenrieder basiert auf einem realen Mordfall. Bemerkenswert nüchtern schreibt er in einem Mix aus Fakten und Fiktion, wie das Umfeld damit umgeht.
Christoph Poschenrieder
Ein Leben lang
294 Seiten
(Diogenes 2022)
Thriller:Aus einer fremden Welt
Im Rosebud-Reservat von South Dakota ist Virgil Wounded Horse «der Vollstrecker». Er verprügelt Übeltäter und sorgt für Gerechtigkeit. Als sein Neffe fast an Heroin stirbt, soll er die Dealer aufspüren. Er fährt nach Denver und legt sich mit dem Kartell an. Bald merkt er, dass die Fäden im Reservat zusammenlaufen. Das grandiose Debüt des Native-American-Autors überzeugt als knüppelharter Krimi und feiner Bericht aus einer fremden Welt. Virgil findet im Kampf zu seiner indigenen Identität.
David Heska Wanbli Weiden
Winter Counts
464 Seiten
Aus dem US-amerik.von Harriet Fricke
(Polar 2022)
Graphic Novel: Er malte die Stille
«Nighthawks», «Morning Sun», «Gas» – Edward Hoppers Gemälde sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Der US-amerikanische Künstler malte stille Symbole einer einsamen Moderne. Autor Sergio Rossi erzählt in der Comicbiografie Hoppers Werdegang – von der Liebe zum Impressionismus über die Anfänge als Illustrator bis zum Erfolg und seiner Beziehung zu Jo Nivison. Dabei spiegeln Giovanni Scarduellis Illustrationen wunderbar Hoppers Blick und Malstil.
Sergio Rossi
Edward Hopper – Maler der Stille
128 Seiten
(Midas Collection 2022)
Sachbuch: Ein Plädoyer für die Kunstfreiheit
Moshe Zuckermann ist vor allem als Analyst der israelischen Politik bekannt. Dabei erweist sich der israelische Soziologe immer wieder auch als präziser Kunstkritiker. In seinem jüngsten Buch widmet er sich der Kunstautonomie. Seit dem 19. Jahrhundert gilt sie als hehres Ideal, geriet in den letzten Jahren durch teils gehässige Debatten zur Identitätspolitik aber unter Druck. Genau analysiert Zuckermann hier das Verhältnis von Kunst zu Politik, Fortschritt und Kitsch.
Moshe Zuckermann
Die Kunst ist frei?
Eine Streitschrift für die Kunstautonomie
160 Seiten
(Westend 2022)
Sachbuch: Zeitlose Erfindung
Ein Sachbuch über die Entstehung des Buchs könnte langweilig sein. Doch die Spanierin Irene Vallejo schafft mit «Papyrus – Die Geschichte der Welt in Büchern» einen spannenden und zeitgenössischen Abenteuerroman. Dabei schickt sie die Leser zu den Anfängen des Buches in die Bibliothek des antiken Alexandria und bis zum Untergang des Römischen Reiches. Auf der Reise begegnet man allerlei Menschen, die sich der wohl zeitlosesten Erfindung der Menschheit hingeben: dem Buch.
Irene Vallejo
Papyrus – Die Geschichte der Welt in Büchern
752 Seiten
(Diogenes 2022)