Bio-Fiktion: Als Venedig zu blühen begann
Der junge Graf Revedin ist wählerisch im Umgang mit seinen Mitmenschen. An Margherita aber hat er den Narren gefressen, denn die Zeitungsausträgerin erweist sich als kluge Gesprächspartnerin. So hält der reiche Herr aus Treviso 1920 um ihre Hand an. Margherita wird, obwohl ein einfaches Mädchen, von der Familie Revedin ins Herz geschlossen. Sie wird nach Paris geschickt, um Benehmen und Konversation zu lernen, verkehrt dort aber auch in den Salons der Bohème und befreundet sich mit Pablo Picasso, Coco Chanel oder Igor Strawinsky. Diese Berühmtheiten lädt sie später nach Venedig ein, wo das junge Paar aus Treviso einen Palazzo am Canal Grande bezieht. Während sich Graf Revedin um den wirtschaftlichen Aufschwung des «Fischerdorfs in der Lagune» kümmert, beginnt Margherita, das kulturelle Leben zu gestalten. Sie gründet die Kunst-Biennale, das Filmfestival und greift geschickt auf die Hilfe ihrer Freundin Peggy Guggenheim zurück. Jana Revedin erzählt höchst stimmungsvoll und farbenprächtig die Geschichte der Grossmutter ihres Mannes – und mithin von der Entfaltung Venedigs zur blühenden Kulturstadt.
Jana Revedin
Margherita
300 Seiten
(Aufbau 2020)
Graphic Novel: Der Spion und der Maler
Dieses Kapitel des Kalten Krieges mag fast vergessen sein, dennoch klingt es nicht minder bizarr: 1967 deckte die «Saturday Evening Post» auf, dass die CIA über Scheinstiftungen Künstler wie Jackson Pollock und Mark Rothko förderte. Der US-Geheimdienst sah gerade im abstrakten Expressionismus das ideale Bollwerk gegen künstlerische und intellektuelle Einflüsse aus dem Kommunismus. Die betroffenen Maler wussten allerdings nichts von alledem. Der italienische Comic-Zeichner Onofrio Catacchio nimmt diese geschichtliche Fussnote zum Ausgangspunkt, um sich in einer Graphic Novel Jackson Pollock zu nähern. In «Pollock – Streng vertraulich!» erzählt uns Catacchio den Werdegang des getriebenen wie geplagten Malers durch die Augen des CIA-Agenten Dan Adkins, der Pollock und dessen Gattin, die Künstlerin Lee Krasner, beschattet. Dabei wird nicht nur die New Yorker Kunstszene der 1940er lebendig, auch Pollocks körperliche und rhythmische Maltechnik entfaltet ihre Energie auf wunderbaren Doppelseiten.
Onofrio Catacchio
Pollock – Streng vertraulich!
112 Seiten
(Midas Collection 2021)
Thriller: Enthüllung eines Polit-Skandals
Ägypten, 1961: Die 17-jährige Rita Hellberg kommt mit ihrer Familie aus der Nähe von Hamburg ins flirrend schwüle Kairo. Ihr Vater, ein nüchterner Ingenieur, soll für Ägyptens Präsident Nasser Kampfflugzeuge bauen. Früher konstruierte er für Hitler Jagdbomber. Er gehört zu den Hunderten deutscher «Experten», die nun für den Führer der antikolonialen Blockfreien-Bewegung Raketen und Flugzeuge entwickeln, welche Israel auslöschen könnten. Rita sucht Abstand zu ihrer zwanghaften Mutter. Sie heuert als Sekretärin bei den «Experten» an und findet so Freiheiten, die sie im Adenauer-Deutschland nie bekommen hätte. Bald wimmelt es in Ritas Umfeld nur so vor Mossad-Agenten, SS-Leuten und KZ-Ärzten. Bald verschwinden Ingenieure spurlos, und Briefbomben detonieren in den Händen von Kollegen. Merle Krögers vielstimmiger Roman ist mehr als ein Thriller – eine Coming-of-Age-Story, die Enthüllung eines Polit-Skandals, ein Fami-lienepos und ein Porträt der 68er. Nur eines ist er nicht: ein 08/15-Thriller, in dem «Haudraufs» für Action sorgen und sich Gut und Böse stets sauber unterscheiden lassen.
Merle Kröger
Die Experten
688 Seiten
(Suhrkamp 2021)
Roman: Zu den Wurzeln
Die Elsässerin Mathilde verliebt sich 1945 in den marokkanischen Soldaten Amine, der für Frankreich im Krieg war. Sie heiraten und ziehen in Amines Heimat – in ein Land, das geprägt ist vom Patriarchat und vom aufkeimenden Widerstand gegen die Kolonisatoren. Im grossartigen ersten Teil ihrer Familientrilogie erzählt die aus Marokko stammende französische Autorin Leïla Slimani nicht nur die Geschichte ihrer Grossmutter, sondern auch jene ihrer Heimat vor 1955.
Leïla Slimani
Das Land der Anderen
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
379 Seiten
(Luchterhand 2021)
Roman: Familie aus dem Lot
Mit gewohntem Witz und originellen Wortschöpfungen erzählt die 81-jährige Schweizer Autorin Angelika Waldis vom alltäglichen Familientrubel. Weil Mutter Inge sich sozial zeigen will und dem Flüchtling Tarek einen Wohnplatz anbietet, gerät der Frieden aus dem Lot. Der Gatte zieht sich schmollend ins Gartenhaus zurück, und die Söhne rebellieren auf ihre eigene Weise. Ein unterhaltsamer Roman mit einigen gesellschaftskritischen Spitzen.
Angelika Waldis
Lauter nette Menschen
256 Seiten
(Wunderraum 2021)
Roman: Patagonisches Abenteuer
Lustvoll schmückt der Schweizer Autor Michael Hugentobler historische Fakten aus und nimmt mit auf eine Reise, die bis zum patagonischen Volk der Yamana auf Feuerland führt. Hier erschafft der Missionar Thomas Bridges ein Wörterbuch der Yamana-Sprache. Jahrzehnte später findet der deutsche Ethnologe Ferdinand Hestermann das Buch und versucht es vor den Nazis in die Schweiz zu retten. Von einer eigenen Patagonien-Reise inspiriert, erzählt der Autor lebendig und mit leisem Humor.
Michael Hugentobler
Feuerland
224 Seiten
(dtv 2021)
Krimi: Mord im Altersheim
In unmittelbarer Nähe ihres Altersheims in der englischen Grafschaft Kent müssen die Senioren und Hobby-Detektive Elizabeth, Joyce, Ron und Ibrahim einen Mordfall klären. «Der Donnerstagsmordclub» ist der Erstling des bekannten britischen TV-Moderators und Quiz-Erfinders Richard Osman. Der Krimi besticht durch einen spannenden Fall, durch liebenswürdig-verschrobene Protagonisten und einen feinfühligen und witzigen Umgang mit Fragen des Älterwerdens.
Richard Osman
Der Donnerstagsmordclub
Aus dem Englischen
von Sabine Roth
480 Seiten
(List Verlag 2021)
Novelle: Meeresrauschen
Lammert ist der Held der «Texel»-Besatzung. Der knorrige Koch sorgt für kulinarische Abwechslung im trist-strengen Alltag auf dem Feuerschiff, das fest verankert in der Nordsee liegt. Als Lammert einen besonderen Leckerbissen plant und dafür einen kleinen Ziegenbock an Bord holt, gerät alles in Schieflage. Diese Novelle tilgt das Fernweh, denn sie bringt wohliges Wellenrauschen, eine steife Meeresbrise und den herben Geruch von Salzwasser in die Lesestube.
Mathijs Deen
Der Schiffskoch
Aus dem Niederländischen
von Andreas Ecke
108 Seiten
(Mare 2021)
Sachbuch: Leben im Hotel
Die Schweizer Hotellerie geniesst traditionell einen guten Ruf. Die Gäste aus aller Welt wurden (und werden) hier aber nicht nur verwöhnt, sondern auch beobachtet und gar fichiert. Ein wunderschön gestalteter Band bietet Einblicke in die Gästekartei des Grandhotels Waldhaus in Vulpera aus den 1920er- bis 1960er-Jahren. Die Lektüre ist so spannend wie unterhaltsam. Zahlreiche Bilder und erklärende Texte lassen die alten Zeiten auferstehen, die nicht nur gut waren.
Lois Hechenblaikner, Andrea Kühbacher, Rolf Zollinger
Keine Ostergrüsse mehr!
395 Seiten
(Edition Patrick Frey 2021)