Ähnlich wie Karl May kannte der Autor William E. Bowman die Ferne nur vom Hörensagen. Der Bauingenieur war ein begeisterter Berggänger, dessen Streifzüge sich jedoch auf die Britischen Inseln beschränkten. Dafür schweifte seine Fantasie in unermessliche Höhen.
Moderne Reiseliteratur
Auf irgendeiner Tour hat er sich folgende Geschichte ausgemalt: Ein Trupp englischer Gentlemen setzt sich zum Ziel, den höchsten Berg der Welt zu erklimmen – den Rum Doodle. Allerdings sind weder der Leiter noch seine Kameraden der Aufgabe gewachsen. Ein Missgeschick jagt das nächste: Der Navigator irrt in der Gegend herum, der Arzt ist ständig krank, der Hauptkletterer mag nicht mehr, der Koch möchte wohl, kann aber nicht. Und der Übersetzer versteht nur Bahnhof. Statt 3000 werden 30 000 Träger engagiert. Am Schluss liegen alle in einer Gletscherspalte. Die Champagnervorräte gehen zur Neige – und auf dem Rückweg die Lebensmittel.
Der Roman bildet in seiner Deftigkeit das krasse Gegenteil der damaligen heroisierenden Expeditionsberichte. Er gehört auch nicht zu den ambitiösen Werken des Bildungsbürgertums. Gleichwohl bleibt er aktuell, wo das Abenteuermonopol den Last-Minute-Trips gewichen ist.
Das Buch entführt in eine andere Welt und lässt einen mit einem neuen Blick auftauchen. Der Text liest sich leicht, rasch und flüssig. Die Übersetzung wirkt aktuell. Sie transferiert die Komik und den unverblümten britischen Humor, der wörtlich in einer Absurdität gipfelt – der Besteigung des falschen Gipfels.
Der fiktive Reisebericht steht in der viktorianischen Tradition mit ihren unzähligen Reisebüchern und Persiflagen. Unübertroffen bleibt «Drei Männer in einem Boot» von Jerome K. Jerome, jene fiktive Bootsfahrt auf der Themse mit dem unvergesslichen Hund Montmorency.
Übrigens: Inzwischen hat ein Berg in der Antarktis tatsächlich den Namen «Rum Doodle» erhalten. Karin Unkrig
Zwischen Anpassung und Aufbegehren
Henrik Ibsens Drama «Gespenster» lohnt mit seinen psychologischen Feinheiten als Lektüre oder als Theaterbesuch.
Mit der Lebenslüge hat sich der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen in seinen Werken oft beschäftigt. Nach und nach tritt in den Dialogen seiner Figuren jeweils das Unbewusste zutage. Auch im 1881 erschienenen Drama «Gespenster» tauchen die Gespenster der Vergangenheit auf und enthüllen die zerstörerischen Abgründe unter der bürgerlichen Fassade einer Familie.
Ein Besuch des verlorenen Sohns Osvald löst eine Reihe von Lebensbeichten aus: Denn der Sohn, inzwischen Künstler geworden, möchte das Dienstmädchen Regine heiraten – nichtsahnend, dass sie seine Halbschwester ist. So muss ihm seine Mutter eröffnen, dass sein Vater keineswegs so ein ehrenhaftes Leben geführt hat wie angenommen. Sie selbst blieb zwar als treusorgende Ehefrau an der Seite ihres Gatten, liebte aber heimlich den Pastor.
Ibsen nannte sein Werk im Untertitel ein Familiendrama. Es ist aber viel mehr als das: Das Stück kritisierte die rigiden gesellschaftlichen Konventionen, unter deren Joch sich der Einzelne – und insbesondere die Frauen – nicht selbst verwirklichen konnte.
In den nordischen Theatern wurde «Gespenster» damals abgelehnt, da es die Stützen der norwegischen Gesellschaft torpediere. Im Schauspielhaus Zürich ist das Stück, das heute noch mit Ibsens psychologischem Feingespür überzeugt, als Gastspiel des Burgtheaters Wien zu sehen.
Babina Cathomen
Bühne
Fr/Sa, 4.10./5.10., 20.00
Schauspielhaus Zürich