Manchmal reichen zwei Textzeilen, um das Hier und Jetzt zu vergessen und kurz einzutauchen in die Hallräume eigener Gedankengänge. «Sonnenblumen geneigt im Abenddämmer. Und wieder wird ein Tag zu gestern», lautet der letzte Text im neuen Buch von Fabio Andina. Den 49-jährigen Tessiner kennt man spätestens seit seinem Roman «Tage mit Felice», der vor anderthalb Jahren auch im deutschen Sprachraum scharenweise Leser und die Bestsellerlisten eroberte.
Wie in diesem kleinen, feinen Roman über einen glücklichen Sonderling im Bleniotal entführen auch Andinas neue Texte in die Zauberwelt der Tessiner Alpen. Wo am Horizont «schmale Votivkerzen» auszumachen sind – Kirchtürme also – als «eine alte Mahnung an das Wesen des Lebens». Wo stets auch stotzige Berggipfel ins Blickfeld rücken und über Licht und Schatten entscheiden, wo Tiere am Wegrand stehen und einen herausfordernd anschauen oder uralte Steinhäuser wie jenes des seligen Angiolino, dessen Dachrinne seit einer Ewigkeit so wackelig im Wind baumelt «wie der Schneidezahn im Mund eines Kindes».
«Einfach auf sich wirken lassen»
Solche Bilder fängt Fabio Andina ein und nimmt sie zum Anlass für Beschreibungen inniger Gefühle, tiefgehender Gedanken oder leuchtender Kindheitserinnerungen. Im Text «Solange es hell war» berichtet er von jenen fernen Abenden, an denen die Kinder den mütterlichen Ruf zum Abendessen überhörten, weil sie draussen noch weiterspielen wollten und letztlich ohne Milch und Brot ins Bett krochen. Die «Farbe des Abends» fängt Wanderer Andina zu verschiedenen Jahreszeiten ein, ebenso die «Horizonte des Malcantone». Sommerlich sein Bericht über die Besteigung des Sosto, des «Matterhorns im Bleniotal», spätherbstlich jener zum «Geruch von Schnee».
«Man muss die Geschichten von Fabio Andina nicht interpretieren, sondern nur auf sich wirken lassen», schreibt Hans Weiss, Gründer der Stiftung Landschaftsschutz, in seinem Nachwort. «Das Wesentliche wird sichtbar und das Geheimnis dahinter bleibt.» Manches Geheimnis wird aber auch erst les- und damit spürbar. Besonders reizvoll ist zudem der Umstand, dass die deutsche Übersetzung von Karin Diemerling dem italienischen Original gegenübersteht, was die Lektüre auch zur sprachlichen Entdeckungsreise macht. So kommt man in den Genuss von unterschiedlich funktionierenden Sprachbildern oder lernt den Rotschwanz auch als «codirosso» kennen.
Illustrationen nehmen die filigrane Sprache auf
Mehr als nur Illustrationen sind die Zeichnungen des Wahltessiner Architekten Lorenzo Custer. In ihrer Skizzenhaftigkeit nehmen sie die sparsame, aber filigrane Sprache Andinas auf. Custer ist ein Meister des Antönens und Weglassens, was die Betrachter dazu anhält, die Bilder und dazugehörenden Texte auf eigene Weise zu Ende zu denken.
Buch
Fabio Andina, Lorenzo Custer
Tessiner Horizonte Momenti Ticinesi
124 Seiten
(Rotpunktverlag 2021)