Auf dem Pult der Lehrerin flackert eine Kerze. Es ist dunkel vor den Fenstern; in dieser Jahreszeit wirken sogar Klassenzimmer gemütlich. SJW-Hefte türmen sich auf den Tischen, es duftet nach diesem eigentümlichen Gemisch von neuem Papier und Druckerfarbe. Die jährliche Auswahl der Hefte des Schweizerischen Jugendschriftenwerks (SJW) ist im Schulzimmer angekommen. Mit der Taschenlampe werden manche Kinder in den nächsten Wochen unter die Bettdecke kriechen und so lange lesen, bis sie wissen, wer der Übeltäter war, der mit roter Kreide das Wort «Bettseicher» an die Rutschbahn gekritzelt hat (in «Das Klassenlager»). Und wie Ordnung in die Woche kam, nachdem sich die Tage untereinander zerstritten hatten (in «Die verrückten Wochentage»). Die SJW-Hefte, aus denen diese Erinnerungen stammen, wurden in den 1980ern verkauft. Damals kostete ein Exemplar Fr. 2.80.
Das Lesevergnügen im Vordergrund
Die ersten SJW-Hefte kamen 1932 heraus. Die Gründer stammten aus dem Umfeld der reformpädagogischen Bewegung; mit den SJW-Heften wollten sie gegen die «Schundliteratur» ankämpfen. Zu einem Preis von 30 Rappen waren die Hefte auch in wenig begüterten Familien willkommen.
1941 erschien ein Heft mit dem Titel «650 Jahre Eidgenossenschaft». Darin steht, was das SJW damals wollte: «Gute und billige schweizerische Jugendschriften verbreiten – Junge Menschen in anregender Art geistig, seelisch und körperlich fördern – Einheimischen Schriftstellern, Künstlern und Druckereien Arbeit verschaffen». Im Heft finden sich Texte zum «Volk der Urschweiz», zu den «Eidgenossen in fremden Kriegsdiensten» und zur «Ehrenfahne».
«Altbacken und moralisierend ist das SJW schon lange nicht mehr», sagt die aktuelle Verlagsleiterin Regula Malin. Sie möchte nicht über einen «erzieherischen Auftrag» sprechen und betont stattdessen: «Für uns steht das Lesevergnügen im Vordergrund.» In erster Linie wolle das SJW die Kinder zum Lesen bringen, dadurch die Lesekompetenz stärken und den Grundstein zur Freude an der Literatur legen.
Das gelingt am besten mit guten Geschichten, ist Malin überzeugt: «Deshalb setzen wir auf ein attraktives und abwechslungsreiches Angebot.»
Eine Fussball-Reihe als Bestseller
Im letzten Jahr hat das SJW eine Fussball-Reihe lanciert, die lesefaulere Knaben ansprechen soll. Geplant sind vier Hefte, die je drei Fussballer vorstellen, darunter auch Fussballerinnen. Das erste ist erschienen und ist einer der aktuellen Bestseller von SJW, wie Malin sagt. Darin porträtiert der Journalist Martin Helg, der als Gesellschaftsredaktor für die «NZZ am Sonntag» schreibt, Cristiano Ronaldo, Xherdan Shaqiri und Zlatan Ibrahimovic. Unterhaltsame Texte, die Schüler wie Erwachsene ansprechen. Malin betont denn auch: «Das Programm von SJW richtet sich an Kindergartenkinder, Schüler und junge Erwachsene.»
Neu im Programm steht eine Reihe zur Migration. «In diesen Heften möchten wir den jungen Lesern die schwierige Situation in den Herkunftsländern der Geflüchteten erfahrbar machen», begründet Malin.
Förderung von Schweizer Autorinnen und Autoren
Zudem gibt es jedes Jahr ein Heft zu einem historischen Thema, ein Heft zu einem Sachthema sowie eines, das Malin als «Weltliteratur» bezeichnet. Derzeit enthält dieses fünf Prosatexte von Hermann Burger – dem Aargauer Schriftsteller, der bereits in seinen 20ern gut mit Worten spielen konnte. Daneben druckt das SJW Geschichten weniger bekannter Autoren. Denn das ist seit den Anfängen gleich geblieben: Das Werk will Schweizer Schriftsteller fördern. Was hingegen weniger bekannt ist: «Wir sind eine Plattform für die Schweizer Illustratoren-Szene», wirft Malin ein.
Kostenpunkt für ein Heft ist heute 6 Franken. Das ist wenig, doch wie können sich Hefte auf einem Markt behaupten, wo sie mit audiovisuellen und digitalen Medien, Harry Potter und «The Hunger Games» konkurrieren? Malin sagt dazu: «Wir haben Einbussen verbuchen müssen. Bis vor wenigen Jahren verkauften wir rund 170 000 Hefte pro Jahr, im letzten waren es noch 129 320.» Insgesamt wurden über 50 Millionen Hefte verkauft, der Absatz muss demnach in guten Jahren ein Vielfaches davon gewesen sein.
Neu gibt es auch Hefte in Englisch
Das deckt sich mit der Aussage aus der Primarschule Seengen AG: «Bis zum vergangenen Schuljahr haben wir eine Ausstellung der SJW-Hefte veranstaltet», sagt die Schulleiterin Marina Heusi. In den letzten Jahren hätten sie aber festgestellt, dass das Interesse kleiner geworden sei, weshalb sie nun darauf verzichten würden. Ähnlich äussert sich Judith Benz, Schulleiterin der Primarschule Gabler in Zürich: «Seit einigen Jahren bestellen wir die SJW-Box aus mangelndem Interesse nicht mehr.»
Verlagsleiterin Malin glaubt dennoch an die Zukunft von SJW: «Es ist ein attraktives Angebot mit einer langen Tradition. Gute Literatur mit Illustrationskunst gepaart – das funktioniert. Qualität setzt sich immer durch.»
Seit 1957 ist das SJW als gemeinnützige Stiftung organisiert. Es finanziert sich grösstenteils über projektbezogene Geldbeschaffung, lediglich 19 Prozent sind Subventionen von Bund, Kantonen und Gemeinden. Die Hefte erscheinen in allen vier Landessprachen und seit einigen Jahren auch in Englisch. Der Austausch zwischen den Sprachregionen ist dem SJW nach wie vor wichtig. So gehört «Lilly und der Fluss – La rivière de Julien» zu den beliebtesten Geschichten. In diesem Heft geht es um ein deutschsprachiges Mädchen und einen französischsprechenden Jungen. Auf der einen Flussseite baut Lilly einen Tierpark, auf der anderen treibt Juliens Piratenschiff sein Unwesen – der Fluss steht dabei für den Röstigraben, den Kinder spielend überwinden.
Bestellungen Hefte: www.sjw.ch