Tilda legte den Kopf in den Nacken und Handschatten über die Augen, noch immer stand Matthias barfuss auf den heissen Ziegeln am Ende des Ostgiebels und wippte in den Knien, er raufte sich die Haare, vor und zurück, Tilda wusste genau, wie sein Haar roch, immer gerochen hatte, mein schöner, stolzer Bruder, dachte sie.
Nun spring doch endlich, du Memme, rief einer dicht hinter Tildas Rücken, einer von denen, die ihre Bäuche gegen die polizeiliche Absperrung drückten und darauf warteten, dass das Herumstehen in der Sonne sich endlich lohnte. Zwischen den Trasseen der umgeleiteten Strassenbahn, vor den Füssen der behelmten Feuerwehrmänner, zerschellte ein Dachziegel, zwei, drei, Tildas Ohren kannten das Geräusch schon auswendig, trotzdem zuckte sie zusammen. Sie sah zu, wie die Männer ihre blechernen Schutzschilde über die Helme hoben, wie Matthias’ Hemd durch die Mittagshitze segelte und fast geräuschlos auf einem der erhobenen Schilde landete. Diese Männer müssen entsetzlich schwitzen, dachte Tilda und: Matthias holt sich einen Sonnenbrand.
Ihr Anfänger, schrie Matthias, ihr erbärmlichen Anfänger, verpisst euch, packt euer beschissenes Luftkissen ein und geht nach Hause, ich komme erst runter, wenn ihr weg seid.
Er löste Dachziegel um Dachziegel aus ihrer Halterung und stapelte sie auf dem Schornstein, sorgfältig rückte er mit den Handflächen seinen Stapel zurecht. Tilda wusste, dass er ein ernstes Gesicht dabei machte, auch wenn sie jetzt nur seinen Hinterkopf sah. Sie hatte das immer gemocht, diesen Ernst, in jeder seiner Bewegungen, diesen Ernst, den niemand ihm hatte austreiben können, die Ärzte nicht und nicht die Tabletten, die er vor einigen Wochen abgesetzt hatte.
Warum, hatte er im Winter am Kamin gefragt, warum Tilda, sind sie mir alle auf den Fersen, beschissen ist das, wenn man jemanden festhält an den Füssen. Und er hatte sie am Knöchel gepackt, mehr nicht, es hatte nicht einmal weh getan, nur in seinem Blick war das Sanfte nach hinten gerutscht, ganz kurz, bis zum nächsten Blinzeln, und Tilda hatte gedacht, dass die Dinge, die Matthias sah, sich vielleicht an diesem harten Blick verbogen, sich gegen ihn bogen.
Ein Kieselstein in ihrem Schuh drückte seitlich gegen ihre nackte Fusssohle. Nach dem Anruf der Polizei hatte sie vor lauter Eile die Socken vergessen. Sie erinnerte sich, wie sie vor ihrem Schrank gestanden und sich gefragt hatte, was man in solch einer Situation anzuziehen hatte, wenn die Polizei anrief und einen bat, den Bruder vom Dach zu bewegen, weil er, so die Polizei, sich da oben seit Stunden die Seele aus dem Leib schreie, jawoll, die Nachbarn aus den Betten und die Seele aus dem Leib.
Notfallkleidung müsste es geben, hatte sie gedacht, wie es Arbeits- und Sportkleidung gibt, weil ihr alles, was in ihrem Schrank lag, falsch vorkam. Sie hatte schliesslich ein altes, blaues Baumwollkleid angezogen, das schon seit einem Jahr bei den Schlafsachen lag, und Turnschuhe, denn sie wusste ja, sie musste aufs Dach. Wimperntusche dann doch, bist du bescheuert, hatte sie gedacht, wozu denn das, aber die tausendmal geübte Bewegung hatte sie beruhigt, hatte Alltag versprochen und Vorhersehbarkeit. Sie erschrak dann trotzdem, als der Kastenwagen vorfuhr, wir holen Sie ab, na gut, wenn Sie meinen, aber doch nicht so, da wäre ihr das Fahrrad lieber gewesen. Und dann das Ratschen der Schiebetür, der viel zu schöne Maimorgen seitlich durch die getönte Scheibe und nach vorne vergittert durch eine Trennwand, ein Tag zum Eisessen und Blaumachen, ein Tag, also auch, zum Kastenwagenfahren.
Seit neun Stunden stand er jetzt da oben und tobte, setzte sich manchmal hin, den Kopf zwischen die Knie, stand wieder auf, wog einen Ziegel in der Hand und warf ihn dann auf die Strasse. Er arbeitete seinen Stapel ab, als wäre es seine Pflicht, während sein Schatten über das blossgelegte Dachgerippe huschte.
Tilda passierte die Absperrung, ihr war heiss, ihre schwitzigen Hände umklammerten das Zigarettenkleingeld, zum Quartierladen an der Ecke war es nicht weit und sie war froh, endlich eine klare Aufgabe zu haben; irgendetwas, hatte Matthias ihr zugerufen, Hauptsache, ich kann es rauchen, und die Polizei hatte dem Botengang zugestimmt. Für jede Handlung, die ihren Bruder betraf, brauchte Tilda nun eine polizeiliche Genehmigung.
Jetzt erst fiel ihr auf, dass hinter der Absperrung mittlerweile die ganze Strasse voller Menschen war. Am Morgen hatten da nur eine Handvoll Fernseh- und Zeitungsjournalisten gestanden, daneben ein paar Nachbarn. Jetzt standen da Jugendliche und hoben ihre Handykameras über die störenden Köpfe vor ihnen, ein Dürrer mit Käppi fluchte laut in sein Display: Scheiss Gegenlicht. Auf den Mäuerchen, die den Bordstein säumten, sassen Mütter mit ihren Kindern und flössten ihnen Sirup ein, sie zerteilten Sandwiches und putzten eisverschmierte Münder mit mitgebrachten Servietten. Rentner standen da und schüttelten die Köpfe, ein junges Mädchen hatte sein Badetuch ausgebreitet und versuchte sich zu bräunen, während ihr Freund sie mit Popcorn bewarf, ernsthaft, sagte sie, mach lieber endlich dein Video, ich will schwimmen gehen.
Tilda schwitzte, ihr Kopf dröhnte, all das kam ihr unwirklich vor und sie wollte raus aus dieser Menschenmenge, irgendwohin, wo es kühl war und still und am besten schon übermorgen, aber zwischen all den Menschen kam sie nur langsam voran.
Ich verstehe das nicht, sagte eine zierliche Frau, die auf den Fussspitzen stand und sich an ihrem Begleiter festhielt, Wasserwerfer, Gummischrot und dann zack, ein Netz drüber, was soll denn daran so schwer sein?
Tilda erkannte in der Frau eine Kundin, der sie vor ein paar Tagen die Nähte für ein Kostüm abgesteckt hatte. Und sie wollte schreien, so, wie Matthias früher für sie geschrien hatte, wenn jemand sie vom Beckenrand geschubst, oder ihre selbst genähten Kleider beleidigt hatte. Dass ihr Bruder höllische Ängste ausstand, wollte sie schreien, dass er der beste Bruder der Welt war und sich bedroht fühlte da oben. Aber Tilda schrie nicht, weil da keine Worte waren in ihrem Mund, nur Trockenheit. Sie drehte sich weg von der Frau und hob die Hand mit dem Kleingeld ganz dicht ans Ohr und schüttelte die Münzen durcheinander, bis sie ausser dem Klimpern fast nichts mehr hörte. Jede Familie hat ein Aussen und ein Innen, dachte sie, und dieser Tag stülpt die kratzenden Nähte und Knoten nach aussen, wo jeder sie sehen und sich darüber auslassen kann, wie bei einem verkehrt herum getragenen Pullover.
Simone Lappert
Die Autorin (* 1985 in Aarau) hat Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studiert. Mit ihrem Romandebüt «Wurfschatten» hat sie im letzten Jahr für Aufsehen gesorgt. Simone Lappert hat bereits mehrere Auszeichnungen erhalten. Sie lebt heute in Basel und arbeitet an ihrem zweiten Roman.