In letzter Zeit wurde ja viel entrümpelt, Dinge wurden auf die Strasse gestellt, an den Zaun gehängt, manchmal auch einfach aus dem Fenster geworfen. Ich dachte mir: Warum nicht auch den Kopf entrümpeln? Der hat es nämlich auch nötig, da gibt es viele Ecken, in denen ich lange nicht war, viel Material, das Staub ansetzt. Also habe ich angefangen, zu meiner eigenen Erheiterung Kopfentrümpelungsgedichte zu schreiben, mir das Wortmaterial aus dem Kopf zu schreiben und zusammen zu stapeln. Wer weiss, vielleicht hat ja der eine oder die andere Freude an diesem oder jenem…
stosszeit
roberta schiebt die krise
im zickzack über den rasen,
die blumen lässt sie stehen.
unberechenbar
der käfer möchte mehr vom leben,
er möchte wild und unergründlich sein.
wenn er unter beobachtung steht,
wirft er sich deshalb auf den rücken,
es kostet ihn sehr viel käferkraft,
aber nichts gibt ihm einen krasseren kribbelkick,
als die verblüffung, die er auslöst damit.
amour fou
andere haben flugzeuge im bauch,
meret nur leere landebahnen.
seit heute streiken sämtliche lotsen,
bis anhin ohne forderung.
fundbüro
aus jux rücken die felsen
über nacht zusammen,
die hiesigen verlieren darüber
den verstand. zur blütezeit
sammeln touristen ihn ein
und probieren ihn zuhause
barfuss aus.
nervenkitzel
emilia kitzelt seit neustem
gern menschen im öffentlichen raum.
sie tritt mit kitzelbereiten fingern
von der seite an sie heran – und tut es.
maskiert ist das kein problem.
in ihrer brusttasche läuft dabei heimlich
das diktiergerät. abends dann,
bei fencheltee im wintergarten,
hört sie sich die kitzelquieker an,
einen nach dem anderen, dicht am ohr.
danach erträgt sie die tagesschau
ein wenig besser.
ausdifferenziert
«ich habe nur ängste»,
sagt er,
«keine allüren».
der nötige biss
wie immer kurz nach mitternacht
bindet herbert seinen schlafrock enger,
er geht zum kühlschrank und öffnet die lade
mit den kleinen camemberts. er nimmt einen heraus,
schält ihn aus dem papier und hält ihn ins gekühlte licht,
schnuppert am feinen weissen schimmelflaum.
er führt den käse zum mund und beisst hinein.
er kaut und schluckt und betrachtet dann versonnen
die bissspuren im weissen käsefleisch. das hat er gut gemacht,
mal wieder. mundwerk, denkt er, spätwerk, meisterwerk,
und legt den erlegten käse zu den anderen aufs fensterbrett.
pünktlich beim schliessen der kühlschranktür spürt er
seine brustbehaarung dichter werden.
madame contraire
madame macht gerne das gegenteil von allem.
sie sagt gesundheit anstatt zu niesen,
giesst literweise essig ins feuer
und wenn jemand sie auf die palme bringt,
sieht sie grün und geht die wände runter.
was ihr nun sichtlich mühe bereitet,
ist der sprung aufs fünfmeterbrett.
geborgenheit
in ihm ist eine wolldecke,
von der er bisher
nichts gewusst hat.
relativitätstheorie
die älteste katze, die je gelebt hat,
so heisst es, wurde 34 jahre alt.
so alt, wie peter seit heute ist.
bis gestern wollte er immer
eine katze sein.
fussnote
sie fände es um welten beruhigender
wenn er ihre füsse halten würde
anstatt ihre hände. die füsse sind das problem,
immer, wenn sie keinen handstand macht.
Simone Lappert
Die 1985 in Aarau geborene Schriftstellerin hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studiert. Mit ihrem Debütroman «Wurfschatten» stand sie auf der Shortlist des aspekte-Preises. Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel und war Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt «Babelsprech.International». 2019 erschien ihr Roman «Der Sprung», der für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Simone Lappert lebt in Zürich.