Decca kündigte vor ein paar Wochen den Promotions-Tag «Bartoli» an. Und kurz darauf kam eine E-Mail von Sony: «Lust auf ein Interview mit Simone Kermes?» So fragten wir alsbald beim Interviewtermin im Niemandsland hinter dem Zürcher Friedhof Sihlfeld: «Frau Kermes, mögen Sie diesen Konkurrenzkampf zwischen den Barock-Königinnen?» Kein Problem habe sie damit: «Wir haben doch ganz verschiedene Stimmen, sind unterschiedliche Typen.» Diplomatinnenworte.
Vor drei Jahren hatte die rothaarige Piratin Kermes den Bartoli-Decca-Tross in Aufruhr versetzt. Sie brachte bei Sony ein Album heraus, dass jenem der Bartoli mehr als glich. Als man bei Decca von den Sony-Plänen erfuhr, kippte Bartoli gar eine Arie aus ihrem Album. Heute sagt Kermes schulterzuckend, dass dieser Coup nicht ihre Schuld gewesen sei. «Wir hatten die CD fertig. Die anderen spionierten. Wir wussten ja nicht, was Bartoli macht, brachten es einfach heraus, weil es geile Musik ist.»
Barock-Königin
Bitte was?! Im Gespräch wird schnell klar, dass Kermes zu Recht «verrückte Barock-Königin» genannt wird. Ihre roten Haare funkeln, und der riesige Totenkopf-Ring am Finger verwirrt. Über eine englische Kollegin wird sie alsbald sagen: «Die ist so dick und hat eine so kleine Piepsstimme», dass der Schweizer Sony-Klassik-Labelmanager Martin Korn heftig die Stirne runzelt. Doch im Prinzip ist Kermes ein Glücksfall für ihn. Die so erfolgreiche CD «Lava» hatte die deutsche Sängerin 2008 bereits fertig produziert, es fehlte ihr bloss eine Plattenfirma. Nach einem Zürcher Liederabend traf Kermes auf Korn. Er hörte das Band – und kaufte es. Da die CD einschlug, war es bis zum Sony-Plattenvertrag nicht mehr weit.
«Ich habe meine Seele an Sony verkauft», sagt sie nun halb ernst, halb grinsend. Aber man lasse sie sehr frei arbeiten: «Wir haben sogar das Cover für die neue CD ‹Dramma› selber gemacht.» Sowieso habe sie für diese Aufnahme gearbeitet wie …«ein Schwein». «Wir» ist neben vielen anderen vor allem ihr Mann. Der kennt ihre Stimme wie kein Zweiter. Zusammen wartete man auf die Noten einer Arie, die per Schiff von Amerika nach Deutschland kommen sollte – zusammen hoffte man auf zwei Harnoncourt-Trompeter, die im Orchester mitwirken sollten: «Sie wollten zwei Wochen Bedenkzeit, da sie erst schauen mussten, ob sie diese unheimlich schwierigen Stücke überhaupt spielen können.» Sie konnten.
Beim Hören wird einmal mehr klar, dass Bartoli längst nicht mehr allein auf weiter Barock-Flur wandelt. Auch Kermes weiss, dass in der Zeit vor 1770 famose musikalische Schätze verborgen liegen. «Diese Werke brauchen Interpreten, die etwas können und Geschmack haben. Davon gibt es mehrere. Ist doch gut, wenn der Markt beflügelt wird, wenn mehrere Bomben hineinfliegen!»
Mit Risiko
Doch Kermes will es nicht beim Vergleich mit Bartoli belassen, sie würde am liebsten mit der Italienerin auftreten: «Zusammen mit Bartoli auf der Bühne, das wäre doch absolut cool!» Vor drei Jahren wäre das noch unmöglich gewesen, gab es doch eine neckisch-tückische Verbindung zwischen den beiden Frauen: Kermes’ philologischer Vertrauensmann war Claudio Osele, einst Bartolis Philologe … und Partner. Auf der neuen CD wirkte er nicht mehr mit, er hatte eine andere Vorstellung von Kermes’ Ideal-Repertoire. «Wenn sie das sieht, ist der Weg zu einer Zusammenarbeit vielleicht freier.» Eine Sony-Decca-Co-Produktion? Nur Mut, geschätzte Label-Manager!
Kermes traf ihre Auswahl auch ohne Oseles Hilfe. Sie verwarf allerdings noch und noch tolles Material. Und gewisse Arien musste sie sich erst technisch aneignen. Geblieben sind sechs Arien von Nicola Porpora (1686–1768), zwei von Johann Adolf Hasse (1699–1783), weitere von Leonardo Leo (1694–1744), Giuseppe de Majo (1697–1771) und Giovanni Battista Pergolesi (1710–1736) –
darunter acht Welt-Ersteinspielungen. «Es gibt Arien, die sind so interessant, die schaffst du aber nicht beim ersten Mal: Auch wenn die Beweglichkeit oder die Höhe stimmt. Bis die Arie im Hals hängt, dauert es! Im Endeffekt lohnt es sich, ein Risiko bleibt aber.»
Lob für Kastraten
Kermes hat sich eine ganze Epoche Gesangskunst angeeignet. Früher, da hatte sie Angst vor dieser Art triumphal sinnlicher Musik, die von den Kastraten geradezu gelebt wurde. «Ich habe meine Technik erweitert, auf diese Musik gelenkt.» Ihre Bewunderung für Kastraten ist damit weiter gestiegen. «Vielleicht gab es nachher nie mehr so grossartige Sänger. Wenn man diese Arien richtig singt, dann hat Herr Mozart keine Chance – ausser mit der Arie der Königin der Nacht. Singe ich im Konzert erst eine schöne Mozart-Arie und danach eine von Nicola Porpora, erhalte ich für Porpora den doppelten Applaus.»
In den Pop-Charts
Bei all ihren barocken CD-Projekten geht gerne vergessen, dass Kermes auch ein Opernleben führt: Mozart und Händel singt sie in Frankfurt. Und an Ostern wagt sie sich im Festspielhaus Baden-Baden unter Simon Rattles Leitung gar wieder einmal an die Königin der Nacht. Selbst in Verdis «Due foscari» wird sie singen. «Easy», sagt Kermes lächelnd, «ich gebe auch Belcanto-Abende. Am liebsten wollen die Zuhörer allerdings Barockarien hören.»
Und so jubelt Kermes zum Schluss des heiteren Gesprächs: «Die CD ist schon in den Pop-Charts – mit einem Repertoire, das kein Schwein kennt.»
[CD]
«Dramma»
(Sony 2012).
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[CD]
«Colori d’Amore»
(Sony 2010).
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[CD]
«Lava»
(Sony 2009).
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