Maurice Beauvé, der mit seiner Frau und seinen fünf Kindern am Rande von Paris eine elegante Villa bewohnte, der Ritter der Ehrenlegion und Mitglied mehrerer angesehener Klubs war, der weitherum grossen Respekt genoss und mit seinem langen, weissen Bart und Haar durchaus den Eindruck eines ehrbaren, gesitteten Mannes machte, öffnete freudig seine Hose. «Auf gehts, Colonel», sagte er zu seinem Begleiter in Uniform, «Sie auch.» Das tue gut, das sei befreiend. Im Übrigen nähere man sich dem Ratsgebäude. Dort hätten es einige verdient. Mehr als verdient! Betrüger seien das! Diebe! Beauvés Unterlippe zitterte. Um seine Nase herum wurde er etwas blass. «Jawohl, Diebe!», pflichtete sein Begleiter bei und hob die Faust. Schliesslich zahlte auch er, weiss Gott, genug Steuern jedes Jahr.
Und so kletterten die beiden hochdekorierten Pensionäre ohne Hose und Unterhose auf den Rand des Ballonkorbs. Sie hockten sich hin und warfen Ballast ab. Der Korb schaukelte und knarzte. Das sei in der Tat ein grosser Spass, sagte der Colonel, während ihm ein aufkommender Wind um den nackten Hintern pfiff. Jetzt, wo er hier so sitze, ja geradezu throne, betrübe es ihn nur, dass er vor dem Abheben nicht noch mehr gegessen habe. Kohl etwa. Oder Schweinsfüsse. Oder Zwiebelsuppe. Und er schaute dem kümmerlichen Würstchen hinterher, das er mit hochrotem Kopf herausgepresst hatte. Nicht grösser als ein Cornichon. Was würde das schon ausrichten? Aus dieser Höhe? Wohl nicht viel mehr als ein Taubendreck, wenn man bedachte, dass es im freien Fall, und mit dem Luftwiderstand, wohl nicht kompakt bleiben, sondern auseinanderbröckeln würde. Ja, er sei auch etwas betrübt, sagte Beauvé. Jetzt, wo er den Colonel nackt sehe. Er hätte mehr erwartet. Mehr erhofft! Aber das sei ja fast beschämend, das sei ja ein Witz! Das müsse er doch selber zugeben! Nicht grösser als ein Cornichon! Der Colonel verstand nicht recht, hörte auf zu drücken. Was Beauvé denn meine? Das wisse der Colonel doch ganz genau, sagte Beauvé, und wie er das wisse! Aber der Colonel wusste es nicht. Er blickte ratlos aus der wenigen Wäsche, die er noch am Leib trug. Selbstverständlich erkläre er es dem Colonel gerne, sagte Beauvé, allein schon ihrer langen Freundschaft wegen. «Es ist so», sagte Beauvé, und stiess den verdutzten Colonel vom Ballon. Dann warf er dessen Hose und Unterhose hinterher, er solle nicht so schreien und sich lieber etwas anziehen, das sei ja höchst unangebracht, so nackt durch die Gegend zu segeln, was sollen auch die Leute denken! Du elender Dieb! Der Colonel landete kompakt auf dem Kamin des Rathauses und bröckelte erst nach dem Aufprall auseinander. Erbärmlich, dachte Beauvé, der dem Colonel die letzten paar Meter mit einem Opernglas hinterher geschaut und dabei ein Kinderlied gesummt hatte. Taubendreck! Und wegen so einem war seine Frau schwach geworden!
Beauvé hatte vor einigen Monaten die Briefe gefunden. Gerochen hatte er sie! Durchs Holz der Schatulle hindurch, so parfümiert war das Geschmiere. Und voller Schreibfehler! In höchst inkorrekter Sprache hatte der Colonel Beauvés Frau den Kopf verdreht. Ja den Verstand geraubt! Erst hatte Beauvé Vitaminmangel vermutet. Es war sehr seltsam gewesen. Nie hatte seine Frau Interesse am eigenen Garten gezeigt. Bäume. Blumen. Schnecken. Das sei ihr alles zu langweilig, sagte sie immer. Vom Sofa aus. Einen feuchten Lappen auf der Stirn. Die Vorhänge zu. Im Hintergrund Katzenmusik aus dem Grammofon. Doch dann plötzlich zog es die Gute förmlich nach draussen. Sie müsse Luft schnappen, sagte sie, und wandelte durch die Anlage. Und häufig setzte sie sich unter den grossen Obstbaum. Und dort, unter einem Stein, sorgfältig eingegraben, fand Beauvé schliesslich die Briefschatulle. Sie war randvoll. Mit lüsternen Worten. Mit Säuseleien und Versprechen. Natürlich stellte Beauvé seine Frau nie zur Rede. So eine Peinlichkeit ersparte er sich. Herrgott. Sogar ein Ring war da drin! Es brach ihm das Herz.
Beauvé entledigte sich weiter summend auch noch der übrigen Kleider. Er faltete jedes Stück fein säuberlich zusammen, dann warf er den ganzen Stapel samt Orden über Bord. Er legte sich splitternackt auf den Boden des Ballonkorbes, setzte den Flachmann an und liess den Wind seine Arbeit verrichten. Beauvé hatte es ausgerechnet. Als ungeübten Trinker würde ihn der Whiskey rasch ausser Gefecht setzen. Zur Sicherheit warf er noch ein paar der Tabletten ein, die er ebenfalls in der Schatulle seiner Frau gefunden hatte. Das wars. Im Prinzip war es ihm einerlei, ob er in höchster Höhe erfror oder irgendwann tief unten zerbarst. Er wollte es einfach nicht unbedingt miterleben. Beauvé prostete dem Himmel zu und schloss die Augen.
Als Maurice Beauvé zu sich kam, hörte er Gesang. Grauenvollen Katzengesang. Da stimmte nichts zusammen. Und was war das für eine Sprache? Der französische Edelmann übergab sich heftig. Alles drehte sich.
Mit Erbrochenem im Bart kämpfte sich Beauvé auf und spähte über den Rand des Ballonkorbes. Sofort schwoll der Gesang an, und es wurde Beifall geklatscht. Die 17 Mitglieder des lokalen Gesangsvereins schauten freudig zum Obstbaum empor und stimmten ein weiteres Schweizer Volkslied an. Mehrstimmig. Im Kanon. Sie nutzten diese Fügung des Schicksals. Ausgerechnet während ihrer Hauptprobe im Park war der bunte Ballon in den Baumwipfel gekracht und hängen geblieben. Einen Tag vor dem grossen Dorfkonzert. Natürlich wollte man helfen, aber erst nach dem Ständchen. Beauvé griff zum Flachmann. Aber da war nichts mehr drin.
Simon Libsig
Der Aargauer Autor (*1977) hat in Zürich und Paris Politikwissenschaften studiert und anschliessend als Journalist bei Radio SRF gearbeitet. Auf den Bühnen ist er als Slam Poet oder mit eigenen Programmen zu sehen. Er leitet Schreibförderungs-Workshops, hat acht CDs, drei Kinderbücher und zwei Romane veröffentlicht. Demnächst erscheint sein neuer Roman «Der Velodieb, der unters Auto kam» und seine CD «S Grossmami und d’Helvetia – Generationegschichte».
www.simon-libsig.ch