Ein Ding nur trage ich mit mir, in dieser Hitze, obwohl die Sonne noch gar nicht aufgegangen ist. Ein Ding, eine –. Eine Fotografie. Sie zeigte einst Farben, Farben, die mir lieb waren, weshalb mir auch die Wörter dazu lieb waren, die Wörter dieser Farben hiessen «Grün» und «Blau», und wenn ich mir morbiderweise früher die unmittelbare Zeit vor meinem Tod ausgemalt habe, habe ich mir vorgestellt, ich würde sagen, ich möchte als Letztes, dass man mit mir den See entlang fährt, diesem Blau entlang, jeden Tag anders, und mich dann, falls nötig im Rollstuhl, in den Wald schiebt. Der Schiebende wäre mein Sohn, oder meine Enkel, und das Ganze hätte im Frühling stattfinden müssen, im Frühling, damit ich dieses Grün dieser Bäume, deren Namen mir entfallen sind, nochmals hätte sehen können, diese Bäume, die einst das ganze Mittelland überzogen.
Und dann hätte ich gesagt, jetzt könne ich getrost gehen. Buchen, so hiessen diese Bäume, doch das mit den Buchen ist vorbei, auch das mit Trost, genauso wie das mit dem Gehen, niemand geht mehr in dieser Hitze und wenn, dann nur in der etwas kühleren Nacht, und «Grün» und «Blau» sind Wörter, die niemand mehr benutzt, weil es Grün und Blau nicht mehr gibt, respektive das Lichtspektrum, in welchem Grün und Blau mitgeschwungen wären, und wie oder warum erklärt man einem der wenigen jungen Menschen eine Farbe, die er nicht sehen kann?
Und auch wenn ich weiss, die Fotografie ist blau und grün, so ist dies in diesem gelblichen Licht, das vom Himmel fällt, nicht sichtbar, die Gesichtszüge des Mannes auf dem Bild verschwommen, des Mannes, der genau hier, an dieser Stelle stets auf mich gewartet hat, auf der Friedhofmauer sass, weil ich jeweils des Weges kam und weil er den Schriftsteller mochte, der hier begraben liegt.
Er las, und manchmal schlich ich mich an und einmal habe ich, genau von diesem Grab aus, heimlich eine Fotografie aufgenommen, diese Fotografie, wie er da sitzt, liest, Wiese, grüne Baumreihe, weissblitzende Berge, ein Stück des Sees, auch der Mann hatte blaue Augen, und jetzt bin ich hier, am Grab des Schriftstellers, dessen Worte kaum einer mehr kennt, bald werden sie ganz vergessen sein und das ist besser so, so viele Worte schmerzen, sie zeigen einigen wenigen Alten, was war, und sie sind unverständlich und nutzlos für die noch wenigeren Jungen.
Das ist besser so, denn das Ganze, insgesamt, alles, was man mit Worten beschreiben kann, scheint in diesem Licht als kolossaler Irrtum, falls sich jemand so etwas ausgedacht hätte, gehörte er gefoltert, Lebensformen, die sich unter Druck weiterentwickeln und ständig um Licht, um Nährstoffe, um alles konkurrenzieren müssen, fressen oder gefressen werden in der DNA, das kann nicht gut kommen, das muss im Nichts enden, so einem Scheisssystem ist das Nichtexistieren vorzuziehen.
Wenn nur Bäume und See nicht gewesen wären, Blau und Grün, dass man singen wollte und sich um sich drehen, und wie konnte es Menschen geben, die darin kein Glück sehen konnten und die Wälder einfach brennen liessen? Denn da hat es angefangen, mit dem Brennen der Wälder, und ich habe die einzige Macht ausgeübt, über die ich verfügte, ich dachte, Wörter hätten Macht, sie könnten etwas, eigentlich: alles bewirken, und es gab damals auch noch so viele davon, in Zeitungen, im Internet, überall, so viele Wörter.
Avocado ist mir kürzlich in den Sinn gekommen oder Cherrytomaten, und mit diesen Worten ein Gefühl, dieses absurde Gefühl, als die Wälder brannten und ich im Supermarkt vor vollen Regalen gestanden habe, mir ist die überreiche Blüte des kranken Aprikosenbaums im Garten meiner Mutter vor Augen gestanden und die überreiche Ernte, bevor er in der Folgesaison verdorrte, und ich wusste um die Notwendigkeit, vorzusorgen, Linsen und Getreide und kiloweise Honig und Vitamintabletten, Antibiotika und Alkohol, als es noch ein Internet gab, kursierten Listen, Benzin und Wasser in Plastikkanistern und zu keinem kein Wort, und wie lange muss man sich verschanzen und wie lange dauert es, bis die meisten verhungert sind oder sich selbst oder sich gegenseitig erschossen haben und braucht man bis dahin Waffen?
Man braucht bis dahin Waffen. Es dauert nicht lange. Es dauert auch nicht lange, bis man beginnt, Wörter zu vergessen, die einst eine Welt ausmachten, in der diese Wörter mächtig waren, und vielleicht gab es einfach mächtigere Zauberer, die mächtigere Wörter erfanden, Wörter wie Rendite oder Gewinnmaximierung oder Klimalügner.
Ich hätte nur gedacht, dass mein Sohn es vielleicht noch etwas länger als Normalität hätte sehen können, die vollen Regale, die Farben blau und grün, bis ans Ende seines Lebens vielleicht, und ich hätte ihm gesagt, mach bloss keine Kinder, das kommt nicht mehr gut, leb du noch so gut wie du kannst, ohne Wälder wird das mit dem Methan ziemlich schnell gehen.
Es ist noch schneller gegangen. Dass der Himmel zunächst grünlich wurde, eigentlich hübsch anzusehen, auch wenn alle Menschen etwas krank ausgesehen haben, aber das hat auch daran liegen können, dass es weniger und weniger Dinge in den Regalen gab, bald gar keine mehr, und wer in seinem Keller volle Regale hat, sagt zu keinem kein Wort und ich habe meinen Sohn gross werden sehen können, fast ausgewachsen ist er, und er soll essen, er hat noch einiges an Wasser und kanisterweise Benzin, vielleicht findet er ein funktionierendes Gefährt oder ein Boot und vielleicht, vielleicht wächst im obersten Norden noch etwas, und vielleicht hat er das Glück, auf der Reise niemandem in die Quere zu kommen.
Es wird heisser. Ich staple Steine vor mich. Ich stelle die Fotografie so darauf, dass ihr Ausschnitt mit dem Hintergrund übereinstimmt. Die Bäume, der See, sie existieren nur noch auf dem Bild. Aber die Berge dahinter schliessen nahtlos an. Ich lehne mich an das Grab des Schriftstellers. Die Sonne geht jetzt auf, gelb und grau, es ist so heiss geworden, dass mir nicht mehr lange bleibt.
Ich kneife die Augen zusammen. Gleich wird der Mann den Kopf heben, er kommt auf mich zu, in diesem gleissenden Licht sind seine Augen hellblau und er zieht mich hoch, wir gehen spazieren in diesem kleinen Wäldchen hinter der Kirche, und die Bäume sind grün, und es ist so schön, nicht mehr wissen zu müssen, wie sie heissen.
Silvia Tschui
Silvia Tschui, 1974 in Zürich geboren, arbeitete als Animationsfilm-Regisseurin, Schriftstellerin, Journalistin und Lehrerin. 2004 wurde eine ihrer Arbeiten für die British Animation Awards nominiert. Ihr erster Roman «Jakobs Ross» (Nagel & Kimche 2014) wurde vom Zürcher Theater Neumarkt für die Bühne bearbeitet. Tschui las 2019 auf Einladung von Nora Gomringer am Ingeborg-Bachmann-Preis aus ihrem neuen Roman, der 2021 bei Rowohlt erscheint.