Vor einem alten Bauernhaus streckt der 16-jährige Remo seine Hand zur Begrüssung entgegen. Früher hat sein Grossvater hier gewohnt, nun bastelt Remo im unteren Stock mit seinen Freunden an den Kostümen fürs Silvesterchlausen. In der ehemaligen Stube ist viel los. Am Tisch sitzt Remos Bruder Pirmin (14) und schleift an einem kleinen Holzteil. Rund um ihn stehen Kübel mit Klebstoff, am Boden liegen rosa Dämmplatten. Letztere haben die Jungs zuvor in mehreren Schichten mit Holzplatten verleimt – die Grundkonstruktionen für die Chlaushüte.
Der angehende Maschinenmechaniker Ben (17) beugt sich über diese Rechtecke, mit dem Cutter schneidet er ein Loch zurecht. Dort muss der Kopf rein. Schreinerlehrling Michi (17) überlegt laut, ob man das Loch nicht besser ganz am Schluss mit einer Stichsäge ausfräst.
«Herumblauffen, Polderen und Schellen»
«Wir haben es komplett unterschätzt», sagt der angehende Hochbauzeichner Remo und lacht. Es ist das erste Mal, dass sein Schuppel, seine Chlausgruppe, grössere Hüte fertigt. Sie gehen als «Schö-Wüeschti». Das heisst: Die Hüte und die eng anliegende Maske fürs Gesicht sind verziert mit Naturmaterialien. Am Rest des Körpers ein wildes Gewand aus Zweigen und Ästen, der «Groscht». Viel Handarbeit.
Andere Schuppel sind als «schöne» oder «wüeschte» Chläuse unterwegs. Die «Schönen» tragen Samttrachten, an den Hüten Glasperlen, glänzende Folien und elegante Kordeln. Die «Wüeschte» zum Groscht Dämonenlarven. In Gruppen von meist fünf bis acht Chläusen werden die Schuppel am neuen und alten Silvester, also am
31. Dezember und am 13. Januar, von Hof zu Hof ziehen, mit ihren Schellen und Rollen läuten und zusammen «zaure», jodeln. Die Bewohnerinnen und Bewohner schenken den Chläusen für die guten Neujahrswünsche etwas zum Trinken aus, gerne Weisswein, und drücken ihnen Geld in die Hand.
Heidnischer Fruchtbarkeitszauber, Dämonenaustreibung? Über die Ursprünge des Chlausens, das heute vor allem im Hinterland von Appenzell Ausserrhoden zelebriert wird, gibt es verschiedene Theorien. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Nikolausbrauch. Einer der frühsten schriftlichen Belege stammt aus einem Sittenmandat der Kirche aus dem Jahr 1663: Schluss «mit Herumblauffen, Polderen und Schellen bey der Nacht». Der Brauch wurde zeitweise verboten. Heute sind die Chläuse sogar zu beliebt. Doch dazu später.
«Wir stellen unsere Töfflireise nach»
Erst diskutieren die Jungs darüber, wie genau sie die Hüte verzieren wollen. Die Schnitzereien zeigen traditionellerweise Alltagsszenen. Man denkt an Kühe und Bauern. Auf dem Tisch aber liegen Figuren mit aufgemalten Badehosen und Polizeiuniformen, Mini-Campingstühle und -Mopeds. «Wir stellen unsere Töfflireise nach», sagt Remo.
Die Figuren haben sie selbst geschnitzt und gebastelt. Im Zimmer neben der Stube stehen Papiertaschen mit Tannzapfen. Die einzelnen Schuppen werden sie auf die Hutränder kleben, dazu vielleicht zerriebenen Tannenbart, der noch in grossen Stücken in der Tasche nebenan lagert.
Die Deko-Zahnräder hingegen stammen aus dem 3D-Drucker.
Tradition und Moderne vermischen sich längst. Und das sorgt für Diskussionen. Sollen sie pro Hut in allen vier Ecken dasselbe Motiv montieren oder, wie Remo argumentiert, «mal was Neues ausprobieren»? Remo will wegkommen von starren Konventionen, auch wenn das einige ältere Chläuse nicht immer gerne sehen.
Weil der Brauch sich wandle, werde er überleben, schreibt der Historiker Johannes Schläpfer in seinem Buch zum Silvesterchlausen. Chlausen ist beliebt, auch bei den Jungen, und das Interesse der Medien ist gross. Die Kehrseite dieser Öffentlichkeit: Immer mehr Auswärtige kommen sich den Brauch anschauen. «Manche greifen den Chläusen in die Hüte», erzählt Michi, der es mittlerweile zu voll findet auf den Strassen.
Dürften denn Auswärtige nicht nur schauen, sondern auch mitmachen, sogar Frauen? Wieder Diskussionen. «Wer chlausen will, soll das tun», meint Remo. Der Brauch gehöre niemandem. Die anderen sehen das zurückhaltender. Das Chlausen gehöre zur Gemeinde, in der man wohne. Mädchen sehe man ab und zu mitgehen, Frauen nicht. «Das war schon immer so, verboten ist es aber nicht.» Die Frauen wirken hinter den Kulissen, wenn sie an den Hüten und Gewändern mitarbeiten. Die körperliche Anstrengung sei nicht zu unterschätzen.
Kondition ist gefragt
In einem Punkt aber sind sich alle einig: Wegen des Geldes geht man nicht chlausen. Und auch über ein Hobby gehe es hinaus. «Für uns sind es Feiertage, noch mehr als Weihnachten», sagt Remo. Es geht um Freundschaft und Freude. In ganz Urnäsch sei eine spezielle Energie zu spüren. Die Stimmung, wenn sie am Morgen bei Dämmerung losziehen – mystisch.
Danach ist Kondition gefragt. Die Hüte, der Groscht, die Rollen und Schellen – ein ordentliches Gewicht. Das Atmen durch die Larve erschwert. Auf den Beinen, bis es wieder dunkel wird. Am neuen Silvester wird bis Punkt Mitternacht gechlaust, am alten Silvester bis in die Morgenstunden. «Danach liege ich einen Tag flach», weiss Remo aus früheren Jahren.
Auch dieser Nachmittag wird immer anstrengender. Chlaus Adrian (15), lernender Elektriker, verspätet sich, die Lichter können nicht wie geplant an den Hüten installiert werden. Die Diskussion um die Figuren flammt immer wieder auf. Überall klebt Sagex. Im Gesicht, in den Haaren, an den Kleidern. Doch einen Moment lang legt sich das Durcheinander.
Die Gruppe stellt sich im Kreis auf, zauret und schellt. Man erahnt, was die Menschen hier oben seit Jahrhunderten in sich tragen und weitergeben. Die Klänge berühren, die Rhythmen fesseln. Ein uraltes Echo, ganz im Jetzt.
Chläuse vor der Linse
Woher kommt das Silvesterchlausen, wie haben sich die Kostüme über die Jahrhunderte entwickelt, was sagen Fachleute zum Brauch? Der Historiker und Germanist Johannes Schläpfer liefert mit «Silvesterchlausen – geächtet, geduldet, gefördert» ein umfangreiches, gut recherchiertes Buch zu diesem immateriellen kulturellen Erbe. Die Fotos dazu sind fantastisch. (ahl)