Das ist kurz und bündig – Missverständnis ausgeschlossen: «Heil Hitler!» Mit diesen Worten grüsst der Absender eines handschriftlichen Briefs den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht im Juli 1968 – vorsichtigerweise anonym.
25 Arbeiter und Angestellte eines Grossbetriebs schrieben die Zeilen im Geheimen und schickten den Brief im Jahr 1968 an den damaligen Innenminister Friedrich Dickel, einen Alt-Kommunisten und bestandenen Antifaschisten. Der Mann musste die Zeilen nicht persönlich lesen. Denn das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) fing den Brief ab und archivierte ihn wie Tausende anderer Schreiben, die DDR-Bürger an die Oberen im Arbeiter- und Bauernstaat richteten.
Ergiebige Quellen
Der deutsche Politikwissenschaftler Siegfried Suckut sichtete dieses Material und fasste es in seinem Band «Volkes Stimmen: ‹Ehrlich, aber deutlich› – Privatbriefe an die DDR-Regierung» zusammen. Laut Suckut steckte hinter der Zensur ein heute schier unvorstellbares bürokratisches System: «Täglich prüften die Kontrolleure bis zu 100 000 Briefe. Ein Kriterium waren äusserliche Merkmale der Sendungen wie fehlende Absenderangaben, ungewöhnliche Formate oder Verzierungen auf dem Umschlag.» All diese Post wurde abgefangen und gesichtet; im Einzelfall versuchten Stasi-Mitarbeiter, die Absender zu eruieren, besonders wenn sie sich gegen die sowjetischen Verbündeten und ihre Rote Armee richteten. In jedem Fall landeten die Briefe im Archiv und dienen heute als eine ergiebige Quelle, um die Befindlichkeit der damaligen DDR-Bürger zu verstehen.
Die ideologische Bandbreite der Schreiben war immens. Sie reichte von nationalsozialistischen Blut- und Boden-Bekenntnissen bis hin zu den Kümmernissen alter Genossen, die den Eindruck hatten, die DDR entwickle sich nicht ganz in die Richtung, die sie sich wünschten. Ein typisches Beispiel dafür ist ein anonymes Schreiben an die SED-Bezirksleitung Dresden nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei im August 1968: «Liebe Genossen, seit dem 21. August sind auch mir als Mitglied der Partei die Augen aufgegangenen. Der Weltkommunismus ist schwer getroffen. Unsere Genossen in Rumänien und Jugoslawien haben die Aggression ebenfalls scharf verurteilt.»
Signiert und unsigniert
Unter dem Schutz der Anonymität scheuten sich die Absender vor keinen Unflätigkeiten: «Herr Ulricht! Sie sind ein Verbrecher, ein grosser Lügner, ein noch grösserer Geschichtsfälscher. Sie beleidigen uns täglich aufs Neue», heisst es in einem unsignierten Brief vom Mai 1969 aus dem sächsischen Königsbrück.
In vielen Briefen ist Bewunderung für den erfolgreichen westlichen Teil Deutschlands erkennbar. Doch immer wieder schimmern auch Irritationen oder Ängste vor den kapitalistischen Freiheiten durch.
So schreiben «Drei Ostberliner, die mit grosser Besorgnis an die Zukunft unseres geliebten Vaterlandes Deutschland denken» an den Allgemeinen Studentenausschuss der Freien Universität Berlin: «Jetzt ist aber genug. Seit Wochen verfolgen wir mit wachsender Aufmerksamkeit Eure sogenannten Demonstrationen. Es ist ein Skandal, dass es so etwas unter Studenten gibt.» Politologe Suckut schreibt von einem «Sozialismus kleinbürgerlichen Zuschnitts».
Buch
Siegfried Suckut
«Volkes Stimmen»
578 Seiten
(dtv 2016).