Es war das Grauen der Jugend. Die 80er-Jahre. Abgesehen von der neuen Deutschen Welle, Punk, dem Drogen umnebelten Phlegma vor dem Ausbruch der Gier, Partys und drolligen Frisuren, die das kollektive Gedächtnis mit den 80ern verbindet, ein seltsam gelbes Jahrzehnt. Kaffee war Plörre aus Glaskannen, Restaurants schlossen um zehn, und Menschen hatten Dauerwellen, im Westen Deutschlands, in den ich aus der noch öderen Diktatur, vor den noch schlechteren Frisuren aus dem Osten geflohen war. Sehr schnell merkte ich: Deutschland interessierte mich nicht, es gab im Osten und Westen nur Deutsche, für Amerika fehlte der Mut, aber von Wien hatte ich fantastische Bilder. Von gutgenährten Menschen, die freundlich in Cafés sitzen, jeder ein Dichter oder Kommerzienrat. Der Österreicher, wurde mir gesagt, hatte keine auto-aggressive Schuldstörung wegen seiner Rolle im Holocaust am Laufen. Man hatte sich des Problems elegant mit dem Export von Hitler entledigt, und Haider legte erst langsam los. Ein Paradies. Ich stellte mir Wien klein vor, grün und an dem eleganten Fluss gelegen, der durch die Stadt fliesst, und an dem Heurigen stattfinden. Ich träumte von Menschen, die Hrdlicka hiessen und Kellner waren. Unklar, was mich an Wien so erregte, der runde Name vielleicht oder mein Hang zur Nekrophilie.
Irgendein Sonderangebot war es gewesen, für 100 Euro, die damals noch anders hiessen, drei Tage Wien, und ich dachte mir, in drei Tagen würde ich die Kleinstadt begreifen. Ich glaubte daran, dass sich Sachen ergäben, so wie ich damals auch noch daran glaubte, dass sich das Leben zum Guten wenden würde, ohne persönliches Zutun.
Und dann stand ich in Wien. Der Ring, von dem ich gelesen hatte, war keine kleine gemütliche Strasse, durch die Miniaturstrassenbahnen fuhren, sondern eine gefühlt zwölfspurige Autobahn, über die nicht einmal Strohballen wehten. Es standen keine Wiener am Strassenrand, um mir zuzujubeln, denn es war leer, vielleicht war Sonntag. So enttäuscht wie als junger Mensch, wenn die bunten Fantasien, die man sich von Orten gemacht hatte, nicht mit der Realität übereinstimmen, kann man später nie mehr werden. Aber das half mir im Moment nicht, denn ich wusste nichts vom Alter. Ich war zwanzig und unendlich.
Die Bäume waren kahl, obgleich es Frühling hätte sein sollen, ein scharfer Ostwind fegte über die Prärie, die aus grauen Palästen bestand, die eigentlich die Post waren. Oder Wasserwerke. Oder Museen. Wo wohnten die Menschen hier? Das Hotel, das in meinem Sonderangebot inkludiert war, hiess Hotel am Schubertring. Wo es sich befand, liegt auf der Hand. Im fünften Stock eines dieser Wasserwerk/Postgebäude. Der kleinste Lift der Welt fuhr in die Etage, wo sich die Zimmer befanden, in denen niemand zu hören war. Mein Zimmer hatte ein Bett. Keine Pointe.
Eine Stehlampe grinste mich an und versuchte, mir etwas mitzuteilen. Aus dem Fenster meines kleinen Raumes sah man über regennasse Dächer, immerhin gab es ein Fenster. Die Stadt wirkte von oben postmortal manipuliert. Ich wurde sofort müde wie noch nie in meinem Leben. Nichts rief nach mir, und widerwillig mit einer enormen Anstrengung verliess ich das Zimmer, um offen zu sein für die Wunder meiner neuen Heimat.
Am Ring betrat ich das erste Kaffeehaus. Da sassen diverse japanische Reisegruppen und wollten Literaten besichtigen. Ein Kellner, vielleicht war es aber auch ein Pfleger aus einer Irrenanstalt, redete in einer unverständlichen Sprache. Ich trank einen Kaffee. Er sagte mir nichts. Ich verabschiedete mich, keiner reagierte. Den Ring entlang, den kalten Wind im Gesicht, suchte ich nach Wundern und gelangte zum Hotel Imperial. Ich fühlte mich wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern und sah durch den Regen, den es nicht gab, in dieses Hotel, das nur aus einem Kronleuchter zu bestehen schien. Alte Frauen und Männer glitten auf Rollen zwischen Fauteuils und goldenen Beistelltischen, und dieses Hotel war von mir so weit entfernt wie der Mars. Ich hätte zwar nicht gewusst, was ich darin getan hätte, spürte aber ein leises Aufflackern von Sozialneid, zu dem das Wort damals noch nicht existierte.
Ich suchte etwas zu essen, fand nur Fleisch, für das der Wiener tausend Worte zu kennen schien, suchte nach jungen Menschen, und fand nur Asiaten und Rentner. Im «Sacher-Hotel» sassen chinesische Touristen und verdrückten Schokoladenklumpen. Die Kellner hiessen Hrdlicka. Und ich wurde traurig.
Dann kam eine Dämmerung, welche die Stadt mit einer Milde überzog. Absurd riesige Atelierfenster wirkten wie Schiffe Ausserirdischer, Wohnungen wurden erleuchtet, sie waren gross wie Fussballstadien.
In meiner Einsamkeit begann ich, Kneipen zu zählen. Bei 123 hörte ich auf. Ich ging den Ring zurück zu meinem Hotel und stellte mir Sommer vor. Laub an den Bäumen. Menschen in leichter Kleidung, die mich grüssten, mit mir in die Kaffeehäuser meiner Fantasie gingen und in geheime Clubs, wo wienerische Exilpoeten Gedichte vorgetragen hätten. Ich gönnte mir ein Abendbrot. Es bestand aus heisser Milch, ich hatte für zwei Tage Wien nicht mehr viel Geld übrig. Vielleicht 18 Euro, die damals noch anders hiessen. Es erschien ein Lohndiener. Er sah aus wie Nosferatu. Die Stehlampe kicherte. Der Regen schlug gegen die Fenster und führte kein Wasser. Ich dachte, ich sei allein auf der Welt und keiner fände mich, würde ich einen Unfall hier haben. Ausbluten zum Beispiel. Es stirbt sich nicht so leicht, mit zwanzig. Leider erwachte ich und zog am nächsten Morgen wieder in den Krieg. Ich hatte mich warm angezogen und lief den Ring in die andere Richtung, um zu dem kleinen Fluss zu gelangen, den ich mir ausgemalt hatte. An jenem Tag war wieder keiner auf der Strasse, vielleicht war eine Warnung ausgegeben worden. Oder es war Sonntag. Ein Mann sprach mich an, mein Herz schlug schneller. Endlich, da war er. Mein Wiener Freund. Ich hätte den Mann fast umarmt, wenn er nicht so furchtbar gerochen hätte, vermutlich einer dieser Menschen, die jeden Morgen eine Flasche Whiskey über sich entleeren, einfach weil sie es können. Der Mann bat mich um finanzielle Zuwendung, und ich war so glücklich über Gesellschaft, dass ich ihm mein verbliebenes Geld überliess. Der Mann entfernte sich ohne Dank. Die restliche Zeit verbrachte ich dann in meinem Hotelzimmer auf dem Fensterbrett.
Das war mein erster Kontakt mit Wien, mit der Ringstrasse, ein Trauma, das mich für Jahre prägen sollte. Aber alles wächst sich aus. Meine Versöhnung mit Wien, die irgendwann in Liebe umschlagen wird, wenn ich ein Ehrenmal auf dem Zentralfriedhof bekomme, dauerte zwanzig Jahre. In denen sich Europa angenehm veränderte.
Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags zur Anthologie «1865, 2015. 150 Jahre Wiener Ringstrasse» (Metroverlag 2014). Siehe Besprechung hier.
Sibylle Berg
Geboren 1962 in Weimar, lebt Sibylle Berg als Schriftstellerin seit 1996 in Zürich. Kürzlich ist ihr Roman «Der Tag, als meine Frau einen Mann fand» (Hanser Verlag 2015) erschienen. Ihre Theaterstücke werden an Bühnen im ganzen deutschsprachigen Raum gespielt.