Es ist das Jahr 1966 im «Land, in dem alte Nationalsozialisten Kommunisten spielen». Genossin Hebamme, eine Funktionärin im Land des real existierenden Sozialismus, kommt freudlos ihrer Pflicht nach, kleinen Kommunisten auf die Welt zu helfen. Ohne Mitgefühl für die gebärende Frau. Empathie ist damals und dort weder vorgesehen, noch wird sie erwartet, und zwar für jede Lebenslage. Solches gehört in eine spätere Zeit, in ein anderes Land, in die Welt der bürgerlichen Mitte des Westens.
Weder Frau noch Mann
So kommt Toto in einem kalten Sommer zur Welt. Ein seltsames Wesen. Undefiniert, weder Mädchen noch Junge, später weder Frau noch Mann. «Es ist ein Nichts», sagt der Arzt. «Ein Nichts hätte sie gutgeheissen, doch das Baby sah zu wenig nach Nichts aus, als dass sie es einfach hätte ignorieren können», denkt die Frau und gibt es in ein Heim, wo eine spätfaschistoide Stasi-Spitzelin ein Terrorregime führt. Sie wird das Wesen später für ein wenig frisches Gemüse als billige Arbeitskraft zu einem ständig betrunkenen und gewalttätigen Bauernpaar weiterreichen.
Über die Jahre erleben wir, wie Berg dem Wesen, das es eigentlich gar nicht geben sollte, Leben einhaucht, es mit Gleichmut und Optimismus ausstattet. Was immer Toto widerfährt, es kann nichts persönlich nehmen. Gehänselt und geschlagen im Heim und auf dem Hof, später im Westen verlacht als schräge Nachtclub-Attraktion und als schwule Transe verprügelt. Und schliesslich von seiner einzigen grossen Liebe, dem schwulen Banker Kasimir, verraten – nichts kann Totos unverbrüchliche Zuversicht in das Leben untergraben.
Toto kennt keinen Hass, keine Rache. Immer wieder rappelt es sich auf und lächelt in die Welt. Immer wieder schickt uns Sibylle Berg zusammen mit Toto auf die Jagd nach dem utopisch Guten, nach dem Strohhalm der Hoffnung. Sie lässt uns über Toto vom ewigen Optimismus anstecken, dass doch noch alles gut werde. Sie wedelt mit einem Happy End vor unserer Nase herum, so penetrant, dass wir eigentlich misstrauisch werden müssten, aber dennoch an ein gutes Ende glauben wollen. Sie lässt Toto endlich sein Talent zum Singen ausleben, führt es in ein Aufnahmestudio – schon schöpfen wir Hoffnung für Toto, es wird Glück und Anerkennung finden. Doch die Welt ist fies. Berg will das nicht beschönigen. Sie verweigert Toto einen hollywoodesken Schlussakkord. Sad End statt Happy End.
Und trotzdem legen wir den Roman mit einem optimistischen Lächeln weg. Denn Sibylle Berg hat ein wundervolles Buch geschrieben. Fein, humorvoll, abgründig und sprachmächtig mit bissigen Anspielungen sowie erbarmungslos entlarvenden lakonischen Zustandsbeschreibungen der drei Deutschland, den beiden alten und dem neu entstandenen. «Sie liebte Worte der alten Schule», schreibt Berg im ersten Abschnitt ihres Romans. Der Satz könnte sie selber beschreiben. Sie ist eine Sprachkünstlerin, die jedes Wort wägt und erwägt, für zu leicht befindet oder zu schwer, ersetzt und schliesslich das richtige setzt.
Mit «Vielen Dank für das Leben» legt Sibylle Berg ihr Opus maximum vor. Es ist ihr bisher umfangreichstes und vielschichtigstes Werk. Die kleine Welt von Toto ist der optimistische Gegenentwurf zur richtigen Welt, wo fast alles den Bach runtergeht. Berg verwebt die grosse Geschichte der letzten 50 Jahre mit den kleinen Geschichten der Menschen, die ihr unterworfen sind. Vieles ist ihre eigene Geschichte, die der ewigen Aussenseiterin: In Weimar, wo sie 1962 als Tochter einer Alkoholikerin zur Welt kam, als Republikflüchtling, welche die DDR schon vor der Wende Mitte der 1980er-Jahre verlassen konnte, als Illegale in der Schweiz lebte und heute als Deutsche in Zürich. Berg hat viel von Toto, ihrem Romanwesen. Sie ist es, und doch nicht. Das gehört zum Versteckspiel, das die scheue Autorin mit dem Leser betreibt. Heute ist sie die schweizerischste unter den deutschen Autorinnen – und eine der fleissigsten. Nebst Romanen schreibt sie Theaterstücke und Kolumnen.
Fünf Fragen an Sibylle Berg
kulturtipp: Sibylle Berg, in Ihrem neuen Roman wird die DDR als absolut trostlos beschrieben. Wie hat Sie Ihre eigene Jugend in der DDR geprägt?
Sibylle Berg: Das Wissen darum, dass man das Land nicht verlassen konnte, erzeugte eine Atmosphäre der Trostlosigkeit. Zumindest in meiner Wahrnehmung. Durch das Abhandensein des Kapitalismus wussten die Leute nicht, warum sie besonders gut arbeiten sollten, sie konnten ihren Status ja nicht verbessern. Es gibt nur wenig, das dem Sozialismus zu verdanken ist: Etwa die relative Gleichberechtigung, die aber gar nicht aus der Wertschätzung der Frau entstand, sondern weil man sie als Arbeitskraft brauchte.
Bis heute versuche ich, das kapitalistische System zu verstehen. Es entspricht natürlich mehr der menschlichen Natur, aber führt jetzt ungezügelt ins Abseits … Es ist mir ein Rätsel, warum es nicht eine galante Mischform zwischen den beiden Systemen geben kann.
In Ihren Büchern geht es oft um die vergebliche Suche nach dem Glück. Wie kommts zu diesem Thema?
Die Suche ist nicht immer vergeblich. Toto ist ein glücklicher Mensch, es wird ihm jedoch sehr schwer gemacht. Aber das ist ja wie bei uns allen: Das Leben ist nicht dazu da, uns glücklich zu machen. Toto hat für sich einen guten Weg gefunden, indem er sich nicht ernst nimmt und einfach – ganz kitschig – ein guter Mensch ist.
Sie haben ein Flair für Aussenseiter wie Toto. Sind Aussenseiter die besseren Menschen?
Sie sind meist nicht so rücksichtslos, weil sie ein Gefühl für Schwäche haben. Aus dieser Position neigt man nicht dazu, die Welt niederzuwalzen. «Normal» ist so ein vorgegebener Wert, um Produkte zu verkaufen. Alles, was abweicht, stellt für die sogenannten Normalen eine Bedrohung des eigenen Lebensentwurfes dar. Mich interessieren Menschen, die sich dem aussetzen. Solche, die sich nicht in das reinflüchten, was am einfachsten erscheint.
Warum diese Wut auf die Welt?
Aus Liebe zur Welt. Ich träume von der Utopie der Gleichberechtigung aller. Rührend, denn ich weiss, dass ich mit meinen Texten nichts ändere...
Gibts noch Hoffnung?
Wenn man keine Revolutionärin ist, bleibt nur der Rückzug ins Private. Aber sonst... Nun serbelt ja auch Europa ab, wegen ein paar Leuten, die ihr Testosteron nicht unter Kontrolle haben. Es wird immer schwieriger, den Feind auszumachen. Man kann versuchen, den Panda zu retten, aber nebenan stirbt der Tiger.
[Buch]
Sibylle Berg
«Vielen Dank für
das Leben»
397 Seiten
(Hanser 2012).
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