kulturtipp: Sie leben in einem der bevölkerungsreichsten Länder der Welt. Wo sehen Sie die Unterschiede in der Stellung der Frau zur Schweiz?
Sheba Chhachhi: Ich kenne die Schweiz schlecht. Soweit ich weiss, sind die rechtlichen Benachteiligungen der Frauen zurückgegangen. Aber innerhalb der Familien herrschen noch immer patriarchalische Strukturen. In Indien sind die Gesetze auch zeitgemäss, aber sie werden nicht befolgt. Die Gewalt gegen Frauen nimmt zu. Natürlich sind die Regionen sehr unterschiedlich, was auch die Stellung der Frauen betrifft. Da gibt es verschiedene Formen der Diskriminierung, besonders im Vergleich zwischen Land und Städten.
Wie kann Ihre Kunst soziale und politische Verhältnisse verändern?
Ich öffne Denkräume. Ich stelle Fragen und verweise auf Zusammenhänge, die andere nicht erkannt haben. Die Kunst erlaubt neue Perspektiven auf die persönlichen, sozialen und politischen Verhältnisse.
Das alles tönt nun ziemlich abstrakt, verstehen die Leute das?
Ich liebe intellektuelle Debatten. In der konkreten Ausführung ist meine Kunst jedoch verständlich; zumal meine Werke sinnlich sind, physisch erlebbar. Ich versuche, politische und philosophische Einsichten zu provozieren.
Zum Beispiel im nordindischen Kaschmir-Konflikt. Wie stellen Sie sich eine Lösung in dieser verfahrenen Situation vor?
Im Moment sehe ich nur Verzweiflung. Vor sechs Jahren habe ich mit einer Kollegin dort gearbeitet und mit den Frauen im Kaschmir-Tal gesprochen. Das war sinnvoll, weil diese neue Einsichten einbrachten, jenseits der Konfrontation zwischen Indien und Pakistan oder zwischen den Rebellen und Regierungstruppen. Diese Frauen wollten und wollen Frieden. Nach einer Periode der relativen Ruhe stecken wir jetzt allerdings in einer Sackgasse, aus der es anscheinend kein Entrinnen gibt.
Ist die Arbeit für Künstler unter der Regierung von Premierminister Narendra Modi schwieriger geworden?
Ja, die Meinungsfreiheit ist zusehends eingeschränkt. Das reicht von den Alltagsmedien über den Film bis hin zum künstlerischen Ausdruck. Es gibt bis jetzt jedoch keine direkte Kunstzensur. Aber die Leute überlegen es sich sehr gut, was sie veröffentlichen und was besser nicht. Selbstzensur herrscht; die politischen Spannungen sind allerorts spürbar.
Wo führt das hin?
Derzeit verschlimmern sich die politischen Verhältnisse laufend. Es ist schon vorgekommen, dass jemand wegen eines Cartoons auf Facebook verhaftet wurde. Niemand kennt mehr die genauen Grenzen der Meinungsfreiheit. Dennoch gibt es immer wieder mutige Stimmen, die sich nicht unterkriegen lassen.
Ökologie und Frauenbefreiung sind für Sie eng verknüpft. Wo sehen Sie die Berührungspunkte genau?
Die Ausbeutung der Frau und der Natur sind für mich fast deckungsgleich. Konkret zeigt sich das bei der Wasserknappheit, die auf den Klimawandel zurückzuführen ist. Arme Stadtfrauen müssen oft um drei Uhr morgens früh aufstehen, um bei den Brunnenhahnen für Wasser anzustehen, um ihre einfachsten Bedürfnisse zu decken. Katastrophal ist auch der Umgang mit den Waldgebieten, die für die Rohstoffgewinnung erschlossen werden. Das bringt der Urbe-völkerung schwerwiegende Nachteile. Mit der Umsiedlung verschlechtern sich Familienstrukturen dieser Leute massiv.
Sie sprachen in einem Interview vom ästhetischen Eindruck, den Satellitenbilder von Umweltkatastrophen vermitteln können. Wie meinten Sie das genau?
Ja, ich sprach von Trockengebieten oder Überschwemmungen in Südasien, die Satellitenkameras fotografierten. Diese Eindrücke waren tatsächlich visuell beeindruckend. Das ist heute eine Form, wie wir Kunst wahrnehmen in allen möglichen visuellen Medien über das Internet oder das Mobile. Dabei zählt nur noch das Bild, nicht mehr das Elend, das dahintersteckt. Solche Aufnahmen können sehr schön sein. Daraus entsteht ein Gegensatz zwischen den realen Erscheinungen und wie wir diesen präsentieren. Das ist etwa die Gefahr der Google-Maps.
Mit andern Worten, es besteht ein Gegensatz zwischen der ästhetisierten Wahrnehmung und den effektiven Verhältnissen?
Exakt, das ist einer der Widersprüche unserer Zeit. Ich habe Fotos von vergifteten Gewässern gemacht, über die sich ein gefährlicher weisser Schaum zieht. Dieser sieht für sich genommen wunderbar aus, auch wenn er hochgiftig ist. Ich versuche mit meiner Arbeit, genau diesen Widerspruch zu erklären – das scheinbar Schöne kann sehr gefährlich sein.
Wie lautet Ihre Botschaft an die Schweiz, wenn Sie den Prix Thun für Kunst und Ethik entgegennehmen?
Diese Auszeichnung symbolisiert die Verbundenheit zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen, die auf gemeinsamen menschlichen Prinzipien beruhen. Dahinter steckt ein solidarisches Denken, das nach und nach zu Veränderungen auf dieser Welt führen könnte.
Sheba Chhachhi
Die 59-jährige Feministin und Künstlerin Sheba Chhachhi kam in Äthiopien zur Welt und wuchs in Indien auf. In den 1980ern beschäftigte sie sich politisch und künstlerisch intensiv mit Frauenfragen und wandte sich ökologischen Themen ebenso zu wie der Konfliktlösung oder einem breit verstandenen kulturellen Verständnis. Sie erhält am Freitag, 25. August, den mit 25 000 Franken dotierten Prix Thun für Kunst und Ethik verliehen.
Prix Thun für Kunst und Ethik
Preisverleihung Fr, 25.8, 18.30
Konzepthalle 6 Thun
Der Anlass ist öffentlich
Eintritt frei