Der Schriftarten-Kongress der Josefina Clemente Stiftung war in vollem Gang. Der Moderator leitete eben die Kontroverse um die Bedeutung der grössten Schriftartengruppen ein.
«Ich stelle Ihnen die beiden Equipen vor: Zu meiner Linken sitzen Belinda Samosa, CEO der Creaprint AG, und Geoffrey Blackpool, selbständiger Schriftendesigner. Sie vertreten die Antiqua. Ihnen gegenüber sehen Sie Constantin Blanchard, Softwareingenieur, und Ivo Renz, Inhaber einer Werbeagentur. Die beiden Herren vertreten die Groteskschriften. Jedes Team hat 15 Minuten Zeit, seine Argumente zu präsentieren. Die Vertreter der Groteske fangen an!»
Blanchard wies auf die Modernität der Groteskschriften hin, der Schriften mit «Füsschen», auf ihre Verbreitung im Internet und auf Serifen als rein dekoratives Element.
Blackpool erhielt als Nächster das Wort. Er vertrat den Standpunkt, Groteske hätten keinen nachhaltigen Einfluss auf den Geschäftsalltag. Er erinnerte an die Verwendung dieser Schriftarten für Schlagzeilen und Überschriften und wies genüsslich auf die Bedeutung des Wortes «grotesk» hin.
Nun setzte sich Belinda Samosa in Szene. «Wir betrachten schliesslich serifenlose Schriften als unmoralisch, ja barbarisch. Und Barbarei kann in unserer Gesellschaft kein Ausgangspunkt für nachhaltige Entwicklung sein. Wir wollen Ihnen unseren Standpunkt in einem Vergleich näher bringen.»
Bei diesen Worten trat ein Mann mit dunkelbrauner Hautfarbe und kurzen schwarzen Haaren auf die Bühne. Frau Samosa erhob sich, ging dem Gast entgegen und geleitete ihn zu ihrem Tisch. Belinda Samosa wandte sich wieder ans Publikum.
«Ich stelle Ihnen Faruk Ben Beki vor. Er ist vor vielen Jahren wegen des Bürgerkriegs aus Algerien geflohen. Vor seiner Flucht wurde er durch eine Mine verletzt. Er wird Ihnen gleich zeigen, welche Spuren der Sprengkörper hinterlassen hat.»
Während dieser Worte von Belinda Samosa hatte Geoffrey Blackpool einen Stuhl ganz vorn auf der Bühne platziert. Auf diesen setzte sich nun Faruk Ben Beki, zog seinen linken Schuh aus und präsentierte dem erstaunten Publikum eine Unterschenkelprothese. Daraufhin zog er seinen Schuh wieder an und kehrte an den Tisch zurück.
«Meine Damen und Herren!», deklamierte Belinda Samosa, «Was hat Faruks Prothese mit Groteskschriften zu tun? – Was die Mine mit seinem Fuss angerichtet hat, das haben die Designer dieser Schriften mit den Buchstaben getan – weggerissene Füsse. Und Dutzenden von Zeichensätzen die Füsse abzuschneiden, betrachten wir als Barbarei!»
Im Auditorium herrschte gespannte Stille. Dann sprang Constantin Blanchard von seinem Stuhl auf und eilte zum Bühnenrand.
«Das ist eine Geschmacklosigkeit und purer Rassismus!», schrie er in den Saal, «ich protestiere in aller Form gegen diese taktlose Darbietung!»
Nun wurde es laut und chaotisch im Saal. Der Moderator fühlte sich bemüssigt, etwas zu unternehmen. Er ging zum Bühnenrand, bugsierte Blanchard an seinen Tisch zurück und stellte sich wieder vorne hin. Er streckte die Arme senkrecht in die Luft, liess sie langsam und immer noch gestreckt nach unten sinken: Es wurde ruhig im Auditorium.
«Meine Damen und Herren!», rief er in den Saal, «ich verstehe Ihre Aufregung gut. Vielleicht möchte Herr Blackpool etwas zur Klärung sagen».
«Ja, natürlich», antwortete der Angesprochene, «wie wir schon vor unserer Darbietung erklärt haben, handelte es sich um einen Vergleich. Wir wollten dafür sorgen, dass Sie sich noch lange an uns erinnern. Wir haben von den Psychologen gelernt, dass Informationen länger im Gedächtnis bleiben, wenn sie starke Emotionen hervorrufen. Und: Wir sind keineswegs Rassisten.»
Daraufhin stand Faruk Ben Beki auf und zog sein Hemd aus. Darunter kamen eine hellhäutige Brust und ebensolche Arme zum Vorschein. Geoffrey Blackpool nutzte das Überraschungsmoment.
«Faruk ist kein Algerier, sondern Österreicher und heisst in Wirklichkeit Kuno Knobel. Seinen linken Fuss hat er bei einem Motorradunfall verloren.»
Chaos im Saal. Der Moderator kündigte die Mittagspause an.
Nach der Pause forderte Constantin Blanchard namens der Groteske-Vertreter, dass der Kongressleiter, Dr. Schäufele, sein Amt niederlegen müsse, und dass gegen die Antiqua-Vertreter ein Disziplinarverfahren eröffnet werde. Schäufele lehnte beides ab.
Kurz vor der Nachmittagspause ergriff Frau Dr. Krautberger, eine der Referentinnen, das Wort: «Meine Damen und Herren», sagte sie mit ihrer ruhigen, festen Stimme, «ich glaube, es ist an der Zeit, die Debatte abzuschliessen.»
Die Teilnehmer strömten aus dem Saal.
Constantin Blanchard dirigierte seine Mitstreiter in ein nahegelegenes Restaurant und bestellte Sekt. «Die Sache ist die», verkündete er, «wir haben unsere Ziele erreicht. Die Öffentlichkeit soll wissen, was sich die Antiqua-Leute erlauben – wir haben es geschafft. Zum Wohl!»
Bruno Wohlgemuth
Bruno Wohlgemuth, geboren 1945, studierte Sozialwissenschaften in Zürich. Er spezialisierte sich auf Didaktik und war für Bildungsinstitutionen sowie die Privatwirtschaft tätig. Ende Oktober erscheinen seine «7 Bösenachtgeschichten» im Basler Verlag Informationslücke. Der Autor lebt in Muttenz BL.