Die Geschichte, die uns Shonda Rhimes erzählt, beginnt in einer Druckerei. Einen passenderen Ort hätte sich die Drehbuchautorin nicht aussuchen können. Kühles Deckenlicht flackert auf, Walzen drehen sich; fast riechen wir die Druckerfarbe, wenn die ersten Magazinseiten aus der Druckmaschine schiessen. Wie jede gute Erzählung setzt auch die Netflix-Serie «Inventing Anna» an einem Wendepunkt ein: Was die Maschinen da ausspucken, ist jener Enthüllungsartikel von 2018, der die Hochstaplerin Anna Sorokin erst zur Legende machte.
Aus der Randnotiz wird ein Medienthriller
Ab 2013 gibt sich die Deutsche Anna Sorokin in New York als Millionärserbin Anna Delvey aus. Piekfein gekleidet und mit selbstsicherem Auftreten prellt sie Hotels und Banken, Geschäftsleute und Bekannte um mehrere 100 000 US-Dollar. Als sie im Herbst 2017 auffliegt und verhaftet wird, berichtet lediglich eine Zeitung über den Fall. Anna Sorokin, die Randnotiz.
Doch der kleine Artikel weckt die Neugierde der Journalistin Jessica Pressler. Diese recherchiert über Monate, spricht mit Geprellten, besucht Sorokin im Gefängnis. Ihr Artikel erscheint noch vor Sorokins Prozess im «New York Magazine» und löst weltweites Echo aus. Da hat jemand doch tatsächlich New Yorks High Society hinters Licht geführt!
Berühmte Hochstapler in der Geschichte
Shonda Rhimes erzählt den Fall Sorokin, basierend auf Presslers Artikel, als neunteilige Serie. Darin macht sich die Journalistin Vivian Kent (Anna Chlumsky), eine fiktive Version von Jessica Pressler, auf die Spur der mysteriösen Anna Delvey (Julia Garner). «Inventing Anna» ist ein Medienthriller – und das passt nur zu gut. Denn die Geschichte der Hochstapelei ist ein Stück weit auch eine Geschichte der Medien.
Schon einer von Anna Sorokins frühesten Hochstapler-Vorgängern wurde von der Presse gefeiert. Der rumänische Hoteldieb Georges Manolescu hatte sich in Deutschland als Fürst Lahovary ausgegeben. Zur Legende wurde er vor allem, weil er sich in seiner Autobiografie von 1905 selbst zum genialen Hochstapler stilisierte. Auch der arbeitslose Schuster Friedrich Wilhelm Voigt wurde ein Medienstar. Als er 1906 als falscher Offizier mit einer Truppe Soldaten die Stadtkasse aus dem Rathaus von Köpenick raubte, berichteten die Zeitungen weltweit vom Hauptmann von Köpenick. Nach seiner Haft bewirtschaftete Voigt geschickt seine eigene Legende, handelte Verträge mit Zeitungen aus, schrieb seine Memoiren und liess sich von Variétés buchen.
Auch für Dokfilmer ein «gefundenes Fressen»
Jahrzehnte später wurde der US-Amerikaner Frank Abagnale wiederum mit seinen eigenen «Köpenickiaden» berühmt: Als falscher Linienpilot, Anwalt und Arzt ergaunerte er in den 60ern und 70ern 2,5 Millionen US-Dollar. Oder etwa doch nicht? Tatsächlich beruhte Abagnales Image vom cleveren Hochstapler auf seiner eigenen Autobiografie. Doch zahlreiche Details aus dem Buch «Catch Me If You Can» von 1980 wurden von Investigativ-Journalisten widerlegt. Der Betrüger Abagnale war nicht halb so erfolgreich, wie er die Welt hatte glauben lassen. Nichtsdestotrotz: Bis heute wird er für Vorträge gebucht. Und Steven Spielbergs Verfilmung von «Catch Me If You Can» zählt zu den erfolgreichsten Filmen der frühen 2000er.
Nahm sich Hollywood ihrer nicht an, stürzten sich gerne die Dokfilmer auf die Hochstapler-Stoffe. «Der Blender» und «The Woman Who Wasn’t There» wurden beide 2012 an den Filmfestivals gefeiert. Ersterer erzählt vom Franzosen Frédéric Bourdin, der über Jahre die Identitäten von hilfsbedürftigen oder gar vermissten Teenagern annahm. Letzterer rollt die Geschichte der Spanierin Alicia Esteve Head auf, die sich in den USA jahrelang als 9/11-Überlebende Tania Head ausgab. Beide Dokumentarfilme nahmen in ihrer Machart den True-Crime-Trend der letzten Jahre vorweg.
Die Faszination wird ewig währen
Endlos liessen sich hier solche und ähnliche Hochstapler-Fälle aufzählen. Was dabei auffällt: Oft machen Presse, Bücher, Filme und Serien diese erst zu Ikonen. Kaum hatte Jessica Pressler ihren Enthüllungsartikel über Anna Sorokin veröffentlicht, zogen die Zeitungen, Mode- und Gesellschafsmagazine nach. Sie bejubelten Anna Sorokin als weiblichen Robin Hood, feierten ihre schicken Gerichts-Outfits, erteilten Tipps fürs beste Anna-Delvey-Halloween-Kostüm.
Dass der Hochstapler immer wieder zur Anti-Establishment-Figur romantisiert wird, mag befremden. Dennoch können wir die Finger nicht von diesen Geschichten lassen. Hochstapler faszinieren uns. Weil sie unser Vertrauen missbrauchen – den Schlüssel unseres Zusammenlebens. Weil ihre Hochstapeleien bisweilen einfach ungeheuerlich sind. Und weil ihre Taten immer auch etwas über die Gesellschaft aussagen. Dort, wo das Militär von grosser Bedeutung war, traten die Uniformschwindler auf. In der Leistungsgesellschaft der Hochkonjunkturjahre wimmelt es hingegen von falschen Ärzten, Wirtschaftskapitänen und Diplomaten.
Aus Anna Sorokin wird «Anna Delvey 2.0»
Und heute? Heute sind es falsche Silicon-Valley-Ikonen wie Elizabeth Holmes – auch ihre Geschichte soll übrigens bald von Apple Studios verfilmt werden. Oder eben: Anna Sorokin. Das Kind einer Zeit, in der sich alles um Reichtum und das Berühmtsein zu drehen scheint. Reality-TV-Formate verkaufen uns das Luxusleben des Kardashian-Klans als Lebensziel. Social Media machten die ständige Imagepolitur salonfähig. Kleine Hochstapeleien, Handy-Foto für Handy-Foto. Anna Sorokin konnte sich auch dank Instagram zur Millionärserbin hochstilisieren. Dort macht sie seit ihrer Haftentlassung vor einem Jahr als «Anna Delvey 2.0» weiter wie zuvor. So bald werden wir diesen Namen wohl nicht vergessen.
Inventing Anna
Ab Fr., 11.2.
Netflix