Bern, Lorraine: Links und rechts stehen Altbauten voller Graffiti, manchmal erahnt man dazwischen Spuren von Stein, Glas und Holz. Im verwinkelten Café nehmen wir auf abgewetzter Polsterbestuhlung Platz. «Verschtah mi nid falsch», sagt Semih Yavsaner alias Müslüm, der im Videoclip zum Song «Ego» das Quartier zur Bronx umfunktionierte. «Ich verspüre positive Vibes hier, die Gegend fühlt sich organisch an.»
Der 43-Jähruge ist gerade aus Koh Phangan eingeflogen, was man auf Anhieb als müslümische Verballhornung von Kopenhagen missverstehen könnte. Aber nein: Seine Batterien aufgeladen hat der Berner Entertainer tatsächlich am Golf von Siam in Thailand, redselig ist er auch, muskulös sowieso, höchstens etwas nachlässig, was die Promotion in eigener Sache betrifft. Von «Popaganda», wie das jüngste Album heisst, zunächst kein Wort.
«Wahre Kunst wird nie einer Regel folgen»
Es gehe ihm um das Seiende, nicht um das Habende, sagt der Künstler. «Man sollte wie ein Sufi leben: nur das nehmen, was man gerade braucht.» Was in künstlerischer Hinsicht mitunter zur Folge hatte, dass sich Müslüm in den 15 Jahren seines Wirkens vom singenden Politklamauker gegen rechts («Erich, warum bisch du nid ehrlich?») zum Kulturpessimisten mit Spezialgebiet Digitalisierung entwickelt hat.
Zum Beispiel der Song «Gugele »: Diese nicht nur drollige Anspielung aufs gemeinnotorische Googeln habe man anfangs auf Youtube kaum gefunden, erzählt Yavsaner. Ein Paradox?
«Alles eine Frage des Algorithmus. Man muss mit Google Ads Werbung schalten, um wahrgenommen zu werden, weil die digitale Welt heute durchmonetarisiert ist, weisch wi ni meine.» Und was auf Social Media nach Solidarität aussehe, sei in Wahrheit eine «Solodarität», die nur noch aus Ich-AGs bestehe.
Gegen solches Kalkül rebelliert nicht nur der liebessehnsüchtige Müslüm, auch Yavsaner mag es nicht, wenn es mehr um Konzepte geht als um Kunst. «Wahre Kunst wird nie einer Regel folgen. Wenn man Regellosigkeit erfahren will, muss man folgerichtig ein Müslüm-Konzert besuchen. Ich werde nichts einlösen, aber alles auslösen, und ich garantiere eine bewusstseinsfördernde Erfahrung.»
Da ist der Sänger ganz Dadaist, spontan bis in die Haarspitzen. Kommt die Rede auf Marcel Duchamp, Salvador Dalí oder Man Ray, ist er voll in seinem Element. Aber ist solche Regellosigkeit nicht riskant? «Klar. Wenn eine Kunstfigur tut, was das Publikum erwartet, wird sie geliebt. Doch wenn sie es nicht tut … Katastrophe. Weisch wi ni meine? »
Zum Beispiel sei er überzeugt, dass «jeder Songtext mich geschrieben hat, nicht umgekehrt. Aber wie willst du das den Leuten erklären? Die wollen lieber hören, dass ich in Südfrankreich eine Flasche Bordeaux aufgemacht habe und dann zu komponieren begann.» Dabei war Yavsaner doch in Koh Phangan und hat dort einfach etwas Ukulele gespielt.
Müslüm – Popaganda
Tournee: Ab Fr, 24.2.
www.müslüm.ch
Müslüms Kulturtipps
Konzert: Thierry Gnahoré alias Nativ
«Er lässt die innerste Absicht und das Wort eins werden, untermalt mit reichhaltigsten Frequenzen, die direkt in allumfassende Resonanz gehen. Nativ ist pure Geistesgegenwärtigkeit! »
Sa, 25.3., 21.00 Kaserne Basel
Albumtaufe: Bächlin-Elkholy
«Wer die klangmalerische Stimme von Wael Sami Elkholy erhört, begibt sich ins erhabenste Gefühl der Harmonie. Gemeinsam mit der kongenialen Pianistin Esther Bächlin wird er nun im Duo Bächlin- Elkholy zu hören sein.»
Fr, 28.4., Progr Bern
Literaturgespräch: Meral Kureyshi
«Wir werden, was wir hören – also kommt und lasst uns werden, was die Schriftstellerin sagt.»
Do, 30.3., 18.00 Universitätsbibliothek Münstergasse Bern