Selina Ursprung: Beobachterin des Banalen
Für ihre Zeichnungen nahm sich Selina Ursprung Überwachungsaufnahmen aus Waschsalons als Vorlage. Entstanden ist das Buch «Waschen und Falten». Ein Treffen im Waschsalon.
Inhalt
Kulturtipp 18/2022
Simon Knopf
Der Tumbler heult, dass man meinen könnte, ein Düsenjet starte im Berner Lorraine-Quartier. Die Türen der sechs Waschmaschinen hingegen stehen offen, im Selbstbedienungs-Waschsalon riecht es süsslich-blumig. Gerade verlässt eine Frau das Lokal mit einer Ikea-Tasche voller Kleider, und Selina Ursprung blickt sich um: «Solche Orte haben mich schon immer interessiert – sie sind unspektakulär, aber die unterschiedlichsten Menschen treffen hier aufei...
Der Tumbler heult, dass man meinen könnte, ein Düsenjet starte im Berner Lorraine-Quartier. Die Türen der sechs Waschmaschinen hingegen stehen offen, im Selbstbedienungs-Waschsalon riecht es süsslich-blumig. Gerade verlässt eine Frau das Lokal mit einer Ikea-Tasche voller Kleider, und Selina Ursprung blickt sich um: «Solche Orte haben mich schon immer interessiert – sie sind unspektakulär, aber die unterschiedlichsten Menschen treffen hier aufeinander.» Die 29-jährige Bieler Illustratorin hat sich gegenüber den Waschmaschinen auf die braune Kunststoffbank gesetzt. Auf einem Tablar stehen Dan-Brown- Romane. Wie oft hier wohl gelesen wird? Selina Ursprung müsste es wissen. Sie beobachtete ein Jahr lang Szenen in solchen Waschsalons. Zu Beginn des Lockdowns hatte sie die Plattform Insecam entdeckt, auf der man Bilder öffentlich zugänglicher Überwachungskameras aus aller Welt findet. Paris. Bratislava. Osaka. Mit Wasserfarben, Blei- und Filzstift verwandelte sie die Aufnahmen für ihr Buch «Waschen und Falten» in Miniaturen des banalen Alltags. Menschen telefonieren, falten Kleider, füllen Maschinen. Ursprung tat es vor allem der Blick durch die Kamera an: «Ich erhielt eine Perspektive, die ich vor Ort so nie erhalten hätte.»
Die Interpretion ist den Betrachtern überlassen
Die Illustratorin studierte zunächst visuelle Kommunikation in Bern. Seit 2019 absolviert sie im deutschen Halle einen Master in Kommunikationsdesign. Ihre Zeichnungen im Buch hat sie mit kurzen Texten über den Moment des Beobachtens angereichert. «Ich fand es spannend, meine Situation des Daheimseins mit jener dieser Menschen irgendwo auf der Erde zusammenzubringen », sagt sie. Und wird dabei fast vom Klopfen übertönt, dass aus dem Tumbler dröhnt. Ein Reissverschluss? Kurz darauf betritt ein junges Paar den Waschsalon. Die zwei deuten auf die Preistafel und diskutieren auf Spanisch. Ursprung lässt sich weder von ihnen noch vom Tumbler beirren: «Ich sehe mich primär als Beobachterin. Jeder und jede soll sich etwas anderes bei diesen Zeichnungen denken.» Tatsächlich lösen diese viel aus: Gedanken zur Überwachung, Melancholie, Amü- sement. Letzteres etwa beim jungen Mann, der sich zum Schlafen in eine Waschmaschinentrommel gelegt hat. Schön sei etwa gewesen, wenn auf den Überwachungsbildern eine Person wiederholt auftauchte. «Es gab mir das Gefühl, diesen Menschen zu kennen – auch wenn das absurd klingt», sagt sie. Als Ursprung den Waschsalon wenig später verlässt, kommt das spanische Paar zurück. In der Hand: Kleingeld. Ein Waschgang dauert 32 Minuten. Was sie wohl tun werden, während sie warten.
Selina Ursprung
Waschen und Falten
96 Seiten (Edition Clandestin 2022)