Mein Bruder fragt sich, ob er in seinem Leben erfolgreich sei. Auch ich stelle mir diese Frage dieser Tage vermehrt. Werde schliesslich bald 40 ... Konventionell betrachtet, sagt mein Bruder, sei er durchaus erfolgreich. Doch bei genauerem Hinsehen basiere sein Erfolg vor allem auf der Tatsache, dass es für ihn als halbwegs intelligenten, normschönen, heterosexuellen Cis-Mann in dieser patriarchal strukturierten Gesellschaft wesentlich einfacher sei als für andere.
Mein Bruder hat diesen scheinbar intellektuellen, superreflektierten Slang seiner woken Bubble voll drauf. Möcht ich auch können.
Uns beide verbindet karrieretechnisch nicht gerade viel. Bei der Grundschule angefangen. Wäre er nicht, genau wie ich, von den Halbstarken regelmässig zur Sau gemacht worden, hätte er, wer weiss, vielleicht sogar eine glückliche Schulzeit erlebt. Ein guter Schüler! Das meiste fiel ihm leicht, auch das mit Mädchen ... Ich dagegen bewarf sie mit Äpfeln oder tat so, als wären sie Luft.
Mein Bruder zieht an seiner Zigarette. «Früher war ich stolz auf meinen Erfolg», sagt er. Verheiratet, zwei Kinder, intaktes Sozialleben, mehrere Abschlüsse, Führungskraft, guter Lohn. «Doch mit der Zeit fing ich an, meinen Stolz zu hinterfragen. Als weisser Mann mit Schweizer Nachnamen habe ich – Tatsache! – weniger leisten müssen als andere, um Erfolg zu haben. Stolz hat was mit Leistung zu tun. Darum nein. Ich bin nicht stolz.»
Verglichen mit ihm, bin ich ein Versager. Alle wissen das. Doch er redet auf mich ein, sagt, ich könne stolz auf mich sein. Begabung, Kreativität, Buchveröffentlichung. Die Wahrheit ist, dass ich ohne seine Hilfe kaum ein Bein vors andere kriege. Steuererklärung? «Klar, helf ich dir.» Theoriearbeit? «Das schaffen wir.» Texte korrigieren? «Kein Problem.» Steuerschulden? «Wie viel brauchst du?»
Die dritte Flasche neigt sich ihrem Ende zu.
Das erste Mal merklich vorangebracht habe ihn die weisse Männlichkeit, als er wehrbeziehunsweise zivildienstpflichtig wurde. «Es gibt ja welche, die fühlen sich durch ihre Dienstpflicht benachteiligt. Dabei ist doch genau dieser Dienst ein riesiger Vorteil», sagt er: «Da, wo ich heute karrieremässig bin, bin ich nur, weil ich damals diesen Einsatz geleistet habe, weiterbeschäftigt wurde, studieren und aufsteigen durfte.»
«Ich mag es, mich mit meinem Bruder zu betrinken. Dann kommt er ins Reden.»
Ich fühlte mich durch die Dienstpflicht durchaus benachteiligt. Weil ich mir die Gewissensprüfung, die mich vom Soldaten zum Zivi gemacht hätte, nicht zutraute, fuchtelte ich während der halben Aushebung mit irgendwelchen Röntgenbildern herum und erzählte jedem, der was zu sagen hatte, von meinen Suizidfantasien. Danach wollten sie mich nicht mal mehr für den Zivilschutz. Aber: Doppelte Untauglichkeit muss man sich leisten können. Für meine kam mehr als einmal mein Bruder auf.
«Du solltest dir mal meine Arbeitszeugnisse reinziehen. Mir werden Talente attestiert, die ich nie und nimmer habe. Durchsetzungsfähigkeit, Führungsstärke, Konfliktfähigkeit. Dabei bin ich so was von konfliktscheu. Ich weiss schon, dass ich durchaus über gewisse Fähigkeiten verfüge. Die Frage ist doch, warum man mir Fähigkeiten attestiert, die ich offensichtlich nicht besitze.»
Und während ich den Rest der Flasche in mein Glas kippe, das Glas ansetze, zitiert er irgendwelche Studien, die belegen sollen, dass Durchsetzungsfähigkeit und Führungsstärke – «Kompetenz ganz allgemein!» – Männern häufiger attestiert würden als Frauen. Er lacht. Das Glas ist leer. Ich öffne den Kühlschrank. Ich geh aufs Klo.
Ich mag es, mich mit meinem Bruder zu betrinken. Dann kommt er ins Reden. Früher hat er noch viel mehr geredet, diskutiert, gelacht. In den letzten Jahren wurde er stiller, hat angefangen, Antidepressiva zu nehmen, grübelt an unserem Leben herum, die ganze Welt huckepack, und verzweifelt an sich.
«Hey! Du nimmst niemandem was weg!», brülle ich durch die WC-Tür. «Hä?!» Die Stimme meines Bruders. Die Spülung, Händewaschen: «Du hast niemandem ...» «Was nehme ich niemandem?» «Also ... Na alles! Du konntest doch nicht wissen, dass ...» «Ich rede meine Leistung nicht klein! Nein, nein, nein, ich rede meine Leistung nicht ...» «Weiss ich doch...» «Ich bekam die Jobs, für die es deutlich kompetentere Frauen gegeben hätte – direkt in unserer Organisation. Führungsstärkere, durchsetzungsstärkere. Verstehst du? JobS! Mehrzahl!», brüllt er.
Warum wir über all das reden? Habs vergessen. Normalerweise unterhalten wir uns in dem Zustand nur noch in 90er-Jahre-Actionfilm-Zitaten. Das wäre lustiger.
«Privilegien!» «Was?» «Privilegien und Opportunismus! Weisst du, was ich meine?» «Ja, ja», sage ich und drehe den Korkenzieher in den Korken einer neuen Flasche. Er bröckelt und bröckelt.
«‹Mein Erfolg hat mich glücklich gemacht›, sagt er, ‹bis ich begriff, dass er einzig auf Privilegien basiert.›»
Ich ziehe und drücke. Der Korken bricht. «Es ist pervers, dass das Verprügeltwerden in der Kindheit zum Vorteil wurde ...» «Hast du ein Sieb?» «Ich weiss, was von mir erwartet wird, bevor geäussert wird, was von mir erwartet wird.» Ich wühle in der Schublade. «Zwanghaft ...», sagt er. Verstummt. Verlässt die Küche.
Ich öffne das Fenster. Kühle Nachtluft. Ich zucke zusammen, direkt hinter mir seine Stimme: «Mein Erfolg hat mich glücklich gemacht», sagt er, «bis ich begriff, dass er einzig auf Privilegien basiert. Jetzt ist der Stolz weg, und ich hinterfrage meine Wirksamkeit. Persönlich, wirtschaftlich, gesell-schaftlich. Dass ich als staatsbediensteter Bürogummi mehr verdiene als eine Krankenpflegerin – oder als du –, hat nichts mit Leistung zu tun oder mit meinem Wert für die Gesellschaft.»
Er klingt viel zu nüchtern. Was redet er da? Interessiert doch niemanden. «First World – First World Problems», singe ich in einstudierter Punker-Attitüde.
Ich weiss nicht, ob er mich gehört hat. Er sagt: «Ich bekomme mehr Geld als du, weil ich einen von der Gesellschaft vorgesehenen Pfad beschreite. Geld, Sicherheit, Anerkennung.
«Weg ist er, ohne ‹Gute Nacht› zu sagen. Konfus durchwühle ich mein Sieb von einem Hirn ...»
Nur hat das mit Glück nichts zu tun.» «Sprechen wir jetzt ernsthaft in Metaphern?», frage ich. «Dieser Pfad ist kein sanft vor sich hinschlängelnder Waldweg ...» «Alter!» «... den du einfach verlässt. Verstehst du, was ich dir sagen will?» «Nein!» «Das ist eine Schneise durch zwei Meter tiefen Schnee. Ihn zu verlassen, ist zu gefährlich.» «Keine Ah- nung, wovon du sprichst.» «Ich weiss, ich hatte Glück. Na und? Du hast trotzdem kein Recht, so mit mir zu reden. Übernimm du erst mal Verantwortung.» Und bevor er die Küche endgültig verlässt: «Ich bin nicht selbstbestimmt.»
Weg ist er, ohne «Gute Nacht» zu sagen. Konfus durchwühle ich mein Sieb von einem Hirn ... «Warum ist er plötzlich so hässig?»
Ich stehe auf, folge ihm: «Hey!» «Was?!» «Kein Gutenachtkuss?» Er lacht. «Wichser», sagt er und geht ins Bett.
Zur Person
Sebastian Steffen, 1984 geboren, wuchs in Bern auf und hat schon als Ziegenhirt, Landschaftsgärtner und Unterstützungslehrer gearbeitet. Trotz Lese- und Rechtschreibschwäche studierte er am Bieler Literaturinstitut. Er hat drei Mundartromane geschrieben, zuletzt erschien «I wett, i chönnt Französisch» (Der gesunde Menschenversand). Steffen macht auch Musik in der Band Wasser. Sein Bruder Florian ist Bibliothekar und ein Jahr älter als Sebastian. Für ihn ist diese Carte blanche das erste Schreibprojekt.