Als Teenager ging Sebastian Bohren am Abend mit Anne-Sophie Mutter ins Bett und wachte am Morgen mit Nathan Milstein auf. Keine der grossen Geiger, deren Spiel er nicht bestens kennt und charakterisieren kann, keine Aufnahmen der legendären Geigendinosaurier, die er nicht im Ohr hat. Doch plötzlich sind diese Bronislaw Hubermans, Nigel Kennedys oder Hilary Hahns mitsamt ihren Aufnahmen nichtig geworden. Denn Bohren nahm selber auf – und zwar das Grösste, das es für einen Geiger gibt: Ludwig van Beethovens Violinkonzert.
Der 27-Jährige nimmt seine Stradivari vom Tisch, legt sie unters Kinn, spielt vier Takte sehr sanft, fast zerbrechlich und sagt, halb seinen Standpunkt, halb seine Tollkühnheit ansprechend: «So darf das auch klingen.» Er könnte anfügen: Beethoven kann so klingen, wie ich, Sebastian Bohren, nun mal bin.
Raus aus dem Studio
Zur Eröffnung des Boswiler Sommers am 27. Juni wird der Aargauer das Violinkonzert spielen. Gut vorbereitet, denn im April ist Bohren bei den Aufnahmen in diesem Violinkonzert ganz aufgegangen. Das Kammerorchester Chaarts und der Solist quartierten sich eine Woche lang auf der Insel Rheinau ein, um der sterilen Studioatmosphäre zu entfliehen. Sie liessen aber ab Mittwoch Gäste zu den Proben kommen, damit spielerisch eine Konzertatmosphäre entstand. Bohren braucht Publikum, sucht im Spiel geradezu eine Angst und eine Verzweiflung – eine perfekte Aufnahme widerstrebt ihm. Nur kalt lassen, das dürfe die CD am Ende nicht: «Man muss merken, dass da Leute um Leben und Tod spielen.»
Sensibilität und Wille
Bohren liebt die grossen Worte. Wer ihm nicht genau zuhört oder zusieht, mag sogar denken, er sei ein Übertreibungskünstler, dem zu viel Selbstvertrauen geschenkt wurde. Das ist Quatsch, aber bezeichnenderweise sagte einst ein Lehrer, man könne den Bohren nicht unterrichten: Entweder etwas komme von ihm selbst – oder es komme gar nichts. Immerhin war Bohren so mutig und so gut, dass er beim russischen Geigendrillmeister Zakhar Bron lernte und dann ins andere Lager überlief, zu der Geigenphilosophin Ana Chumachenko.
Sebastian Bohren ist anders. Nicht weniger karrierebewusst: Auch er ist voller Träume. Aber man merkt bei ihm im Unterschied zu anderen Künstlern in jeder Sekunde, dass er das Geigenspielen mehr als alles liebt. Er verehrt seine Geige, huldigt ihr, tut alles für die Musik – so sehr, dass er schlaflose Nächte durchlebt. Doch bei allem Zweifeln und Grübeln sieht Bohren seine Stärken erstaunlich klar, was ihn wiederum vom Gros anderer Künstler unterscheidet. Ein spezieller Ton. Sensibilität. Interpretatorisches Format. Ein Wille.
Doch zum Wissen um die selbst ausgesprochenen Stärken kommt eine grosse Selbstkritik – und der Unmut, wenn etwas nicht gelingt. Man hört bisweilen auch Fehler bei ihm. Er aber sagt: «Da ist immer die Chance, dass etwas entsteht, das Tiefe hat.» Will heissen: Wenn etwas nicht funktioniert, kann ich dennoch dahinterstehen, wenn ich weiss, dass im Fehler, ein kleiner Moment war, wo nur Sebastian Bohren drin ist. «Dann kann jemand spüren, was mir in meinem Leben wichtig ist. Das ist existenziell. Daran glaube ich – an sonst nichts.»
– Donnerschlag. –
Wer jetzt denkt, der Bohren spinnt, erfreut ihn. Er wird darin eine Bestätigung sehen, dass er und seine Geige auf dem richtigen Weg sind. Sein ganzes Leben ist darauf ausgerichtet, den ganzen Tag überlegt er sich, wie er spielend Substanz erzeugen kann. Als Ausgleich gibts mal einen Spaziergang zur Entspannung, mehr nicht. Nur durch diese Radikalität schafft es Bohren, das erlernte Geigenhandwerk mit einem natürlichen Ausdruck zu verbinden. Alles muss im Werk verschmelzen – und dann ins «Ich» übergehen.
Beethoven erschöpft
Sebastian Bohren behält seine grossen Ziele für sich. «Würde ich es aussprechen, hiesse es, ich wäre arrogant.» Hätte er sein altes Ziel genannt, hätten alle gedacht: «Was meint de Sebi wieder!» Er hat es erreicht, er spielt eine Stradivari.
Nach einer Woche auf der Insel Rheinau lässt Bohren verlauten: «Ich bin erschöpft nach diesem Beethoven-Marathon. Ich habe so viel Energie ins Ensemble gesteckt, dass ich nicht genau weiss, ob ich geigerisch wirklich jede Stelle super im Kasten habe. Gelassenheit ist angesagt.» Für ihn ja – für die Hörer ist Freude angesagt, denn da wächst ein grosser Schweizer Geiger heran.
Pleyel/Vanhal
Violinkonzert
(Sony 2015).
Konzerte
Sebastian Bohren am Boswiler Sommer
Sa, 27.7./Mo, 29.7./Di, 30.7.
Jew. 20.15 Sa, 4.7., 21.40
So, 5.7., 11.00/17.30 Alte Kirche Boswil AG