Eine Freundschaft, die allen Widernissen trotzt: Das verbindet die beiden Jugendlichen Jim und Tommy, die in den 60ern und 70ern in einem Kaff bei Oslo leben. So verschieden sie sind, so nahe stehen sie sich. Jim wächst als Einzelkind behütet bei seiner religiösen Mutter auf, Tommy und seine drei Geschwister werden von ihrer Mutter früh verlassen und leben beim gewalttätigen Vater – bis sich Tommy eines Tages zur Wehr setzt und zurückschlägt. Der Vater haut ab, und der 14-jährige Tommy fühlt sich als Ältester für seine Geschwister verantwortlich. Doch bald kommen die Kinder zu verschiedenen Pflegeeltern; die enge geschwisterliche Bindung löst sich auf. Nur die Freundschaft zwischen Jim und Tommy ist ein fester Anker im Trubel der Jugendjahre.
Zufälliges Wiedersehen
Per Pettersons Roman setzt Jahrzehnte später an, als sich die beiden zufällig auf einer Brücke treffen. Die dicke Freundschaft hat nicht gehalten; 35 Jahre lang haben sie sich nicht gesehen. Ausgerechnet aus dem in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsenen Tommy ist ein Investmentbanker geworden – erfolgreich, aber unglücklich. Jim ist seit einem Jahr wegen psychischer Probleme krankgeschrieben und hat sich zu den verlorenen Männern gesellt, die allmorgendlich auf einer Brücke fischen.
Der norwegische Autor rollt in seinem Roman puzzleartig in Rückblenden und Perspektivenwechseln die Lebensgeschichten der beiden einsamen Männer auf. Er legt offen, wie der Ballast aus der Vergangenheit sich auf die Gegenwart auswirkt. Warum die Freundschaft zerbrochen ist, lässt sich nur erahnen – wie überhaupt so manche Leerstellen bleiben, die Petterson der Fantasie der Leser überlässt.
Entfremdung
Eines ist sicher: Jims Selbstmordversuch hatte die beiden einander entfremdet, wie Tommy 1971 bei seinem einzigen Besuch bei Jim in der Psychiatrie feststellt: «… jetzt war er an einem Ort, an dem ich noch nie gewesen war, einem Ort, zu dem wir nicht zusammen aufgebrochen waren, und dort hatte er Dinge gesehen, die ich mir nicht vorstellen konnte, und sein Blick hatte etwas Überhebliches bekommen, das mich verunsicherte.» Sie werden sich bis zum kurzen, schicksalshaften Treffen 2006 auf der Brücke nicht wiedersehen. Mit der Begegnung bricht bei beiden eine Verhärtung der Seele auf – Tommy nennt es einmal die «Schwielen». Bei Tommy löst das Treffen einen inneren Wandel aus, Jim hingegen scheint verloren.
Einsamkeit und Melancholie sind die Grundessenzen in den Romanen des 62-jährigen Autors aus Oslo. Zu seinen eindrücklichsten Werken gehört «Pferde stehlen» aus dem Jahr 2005, in dem wiederum der Vater-Verlust und seine Folgen im Mittelpunkt stehen.
Ohne Pathos
Drückend schwer sind Pettersons Werke trotz dieser Themen dennoch nie. Das hängt mit seiner kraftvollen Sprache zusammen, die wie ein ruhiger Fluss dahinzieht. Und mit seiner Kunst, Bewegendes oder Tragisches schlicht und ohne Pathos darzustellen. «Es gab keinen Grund, sentimental zu werden. Das machte alles nur noch schlimmer», sagt auch Tommys Mutter, kurz bevor sie ihre vier Kinder für immer verlässt.
Selbst die einzige explizite Gewaltszene im Buch behält etwas seltsam Schwebendes bei, ist wie in einer wattierten Zeitlupe erzählt und offenbart dennoch ihre ganze Härte: Als Tommy von seinem Vater verprügelt wird, denkt er sich in einen Traum hinein, in dem er keinen Schmerz mehr spürt. Gerade dadurch gewinnt er die Stärke, um sich gegen den Tyrannen wehren zu können.
Für Tommy leuchtet am Ende mit einer Frauen-Bekanntschaft ein vages Licht im Dunkel auf. Ob er die Chance packen wird, bleibt offen, aber er weiss: «Ich musste mein Leben in ihren Schoss legen. Sonst war ich erledigt. Wir hatten nicht die Zeit, einen Schritt nach dem anderen zu machen.»
Per Petterson
«Nicht mit mir»
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger
288 Seiten
(Hanser Verlag 2014).