Die uralte Geschichte ist reaktionär. Das legendäre Bilderbuch «Joggeli söll ga Birli schüttle!» veranschaulicht den Kleinen, dass sich Widerstand gegen die Mächtigen nicht lohnt. Vielmehr ist es angezeigt, sich der Hierarchie zu fügen. Wer sich nicht daran hält, wird umgehend bestraft, wenn der Meister selbst zur Rute greift. Dann beisst der Hund den Knecht, haut der Knüppel den Hund und so weiter, bis der Bauer seinen Willen durchgesetzt hat. In der Erstausgabe von 1908 zierte sogar ein veritabler Henker die Bildabfolge hinter dem Metzger, damit dem dümmsten Kleinen klar war, dass hier nicht zu spassen ist.
Beliebte Bilderbücher im Landesmuseum
Die Basler Künstlerin Lisa Wenger (1858–1941) hat die deutsche Ballade «Der Bauer schickt den Jockel aus» aus dem frühen 17. Jahrhundert in der Schweiz populär gemacht. Bis in die Nachkriegszeit kannte jedes Schweizer Kind die Geschichte von den rebellierenden Untertanen auf dem hierarchischen Bauernbetrieb.
Das Landesmuseum in Zürich erinnert nun in einer Ausstellung an die Vielfalt der Schweizer Kinderliteratur unter dem Titel «Joggeli, Pitschi, Globi … Beliebte Schweizer Bilderbücher». Lisa Wenger mit ihrem «Joggeli» nimmt darin einen prominenten Platz ein.
Die Künstlerin kam in Bern zur Welt und wuchs in Basel auf. Sie liess sich an Akademien in Paris, Florenz und Düsseldorf zur Malerin ausbilden, was für junge Frauen damals ungewöhnlich war. Mit 32 Jahren heiratete sie den um zehn Jahre jüngeren Théo Wenger, einen Pfarrer, mit dem sie in die USA zog, ins ländliche Missouri. Doch das Land der Verheissungen hielt nicht, was sich die jungen Auswanderer versprochen hatten. Sie zogen mit den zwei Töchtern zurück in die Schweiz nach Delsberg im damaligen Berner Jura, zumal Théo in den USA als Pfarrer unglücklich war und sich lieber dem Weltlichen zuwandte.
Lisa Wenger wollte im Jura nicht versauern und widmete sich intensiv ihrer Malerei, dabei entstand der «Joggeli». Die Künstlerin war damals 46 Jahre alt. Später ging das Paar zurück nach Basel, die geschäftstüchtige Wenger eröffnete ein Studio für Porzellanmalerei. Ihr Mann übernahm den Familienbetrieb Wenger Messer, der heute noch bekannt ist.
Eine der meistgelesenen Autorinnen jener Zeit
Nach dem Tod ihres Mannes zog sie auf ihren Sommersitz in Carona (TI), der zu einem Treffpunkt für Künstler und Autoren wurde. Ein Gast war der deutsche Schriftsteller Hermann Hesse, der für kurze Zeit mit einer der beiden Wenger-Töchter verheiratet war. Lisa Wenger vermittelte ihre künstlerische Begabung über Generationen weiter: Sie war die Grossmutter der legendären Meret Oppenheim, einer der wichtigsten modernen Schweizer Künstlerinnen überhaupt.
Laut dem Gastkurator Hans ten Doornkaat kamen die Kinder- und Jugendbücher erst mit dem Jugendstil in der Schweiz auf. «Dessen gestalterischen Elemente finden sich auch beim ‹Joggeli›.» Dennoch sollte es bis nach dem Ersten Weltkrieg dauern, bis sich die Bilderbücher durchsetzten: «Dank der Werbung», wie ten Doornkaat sagt. Ein gutes Beispiel ist das von Maggi gesponserte Liederbuch «Chömmed Chinder mir wei singe». Auch Globi (Globus) gehörte in diese Kategorie, wohl die erfolgreichste Schweizer Werbeidee aller Zeiten.
Lisa Wenger war mit dem «Joggeli» also ihrer Zeit voraus. Sie entwickelte einen beeindruckenden Tatendrang und veröffentlichte über 40 Kinderbücher, Romane, Theaterstücke, SJW-Hefte. Zu ihrer Zeit war sie eine der meistgelesenen Schweizer Autorinnen. Ihr Werkverzeichnis führt so klangvolle Titel an wie «Die Altweibermühle – zehn Frauenmärchen» (1921) oder «Er und Sie und das Paradies» (1918).
Wenger war eine politische Frau und setzte sich für die Gleichberechtigung ein. Allerdings liess sie sich nicht auf eine eng gefasste Weltanschauung festlegen und gehörte mit Gottlieb Duttweiler zu den Gründungsmitgliedern des heute aufgelösten «Landesring der Unabhängigen».
Joggeli, Pitschi, Globi …
Beliebte Schweizer Bilderbücher
Bis So, 14.10.
Landesmuseum Zürich
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Weitere Gestalter von Bilderbüchern
Der in Bern und im thurgauischen Tägerwilen aufgewachsene Ernst Kreidolf (1893–1956) machte sich einen Namen als Blumenmärchenerzähler, ohne ein Verniedlicher zu sein. Vielmehr hatte er in seiner neuen Märchensprache Bilder gefunden, um die politischen und die sozialen Umwälzungen seiner Zeit zu spiegeln, besonders den Ersten Weltkrieg. Das Landesmuseum stellt ihn als einen «der Begründer des modernen Bilderbuchs» vor. Er ist unter anderem mit seinem Werk «Die Wiesenzwerge essen Kirschen» (1903) zu sehen.
Der Berner Oberländer Grafiker und Künstler Hans «fis» Fischer (1909–1958) ist der Vater von «Pitschi. Das Kätzchen, das immer etwas anderes wollte. Eine traurige Geschichte, die aber gut aufhört.» Er zeichnete das Buch zuerst für seine Kinder, bevor es im gesamten Land Verbreitung fand. Fischer war Kunstmaler, Grafiker und Karikaturist, etwa für den «Nebelspalter». Sein Sohn Kaspar Fischer machte in den 1980er-Jahren als Kabarettist Karriere.
Der Basler Künstler Herbert Leupin (1916–1999) war ein Wegweiser der Schweizer Grafik. So gestaltete er zahlreiche Briefmarken und Plakate. In seinen Kinderbüchern schuf er einen magischen Realismus. Dieses Bild zeigt seine Version vom «Schloss für Dornröschen» aus dem Jahr 1948.