kulturtipp: In «The Civil Wars» stehen die Biografien der Schauspieler im Zentrum. Wie kam es dazu?
Milo Rau: Ich habe mich lange mit dem Salafismus, einer besonders extremen Form des Islam, befasst. Für ein Porträt Europas, wie ich es mit «The Civil Wars» versuchen wollte, war das letztlich aber nur noch als Ausgangspunkt interessant – als besonders krasses Symptom für unsere Gesellschaft. Ich fand alles, worüber ich mit den jungen Djihadisten und ihren Familien gesprochen hatte, in anderer Form bei den Schauspielern wieder: Extremismus, Verzweiflung, Wahnsinn, aber auch eine Form von Weisheit. Zudem fehlten – wie bei den meisten salafistischen Jugendlichen – die Vaterfiguren, und das ist zum Leitmotiv des Stücks geworden. So entwickelte es sich in diese Richtung.
Eine ungewohnte Art von Seelenstriptease auf der Bühne?
Die Schauspieler sprechen über sehr persönliche und finstere Momente in ihrem Leben. Es geht dabei aber nicht um sie selbst, sondern sie zeigen damit beispielhaft Veränderungen in der Gesellschaft Europas der letzten 30 Jahre auf. Auch die Zuschauer der Voraufführung haben bemerkt, dass es um die Gesellschaft als Ganzes geht, am Beispiel von vier Stimmen. Für die Schauspieler hat dies das Sprechen über sich selbst möglich gemacht: dass man zwar als Anlass einen speziellen Fall – eben seine eigene Biografie – nutzt, dieser aber auf der Bühne ins Allgemeingültige gehoben wird. Dieser Schritt weg vom Privaten war entscheidend.
«The Civil Wars» wird als Ihr bisher persönlichstes Theaterstück bezeichnet. Woran könnte das liegen?
Die erzählten Geschichten sind sehr persönlich, da sie ja von den Schauspielern wirklich so erlebt wurden. Es ist aber auch ein Nachdenken darüber, was es bedeutet, als Schauspieler auf der Bühne zu stehen und gleichzeitig über sich selber und über die Gesellschaft zu sprechen. Das nimmt keine theoretischen Züge an, sondern wird sehr implizit umgesetzt. In meiner bisherigen Arbeit habe ich das Über-sich-selber-Reden abgelehnt. Viele Kritiker haben es als grossen Bruch in meiner Arbeit erlebt, dass hier die Schauspieler plötzlich «ich» sagen auf der Bühne. Ich habe lange nach dieser Form gesucht und wusste nun: Genau so muss es sein!
Welchen Einfluss hat die Vaterlosigkeit und Perspektivenlosigkeit, welche Sie der heutigen Gesellschaft nachsagen, auf die Zukunft?
Ich glaube, die europäische Gesellschaft und Europa insgesamt stehen vor einem grossen Umbruch, der sich schon lange angekündigt hat. Dies in Bezug auf das Verhältnis zu unserer Vergangenheit, aber auch darauf, wie wir unsere Gesellschaft organisieren wollen. Wirtschaftlich läuft es relativ gut, die EU ist ein trotz aller Krisen immer besser funktionierendes ökonomisches Experiment. Aber wie eine kollektive Utopie «Europa» aussehen könnte, wie es gesellschaftlich funktionieren wird, da gibt es nur sehr vage, akademische Vorstellungen. Und das sieht man in den Erzählungen meiner Schauspieler: das Gefühl, dass eine Geschichte sich vollendet, mit all ihren Utopien, dass es mit dem alten Europa zu Ende geht – und niemand weiss genau, was jetzt kommt.
Sie malen gerne schwarz. Gibt es auch Positives an der Zukunft?
Objektiv gesehen ist Schwarzmalen schlicht und einfach realistisch in Bezug auf die Politik, die heute in Europa gemacht wird. Die Grenzpolitik gegen Nordafrika, die völlig überstürzte Osterweiterung der Nato, das alles sind offensichtlich imperialistische Strategien. Man versucht, sich vorzubereiten auf das, was Mitte des Jahrhunderts auf unseren Planeten zukommen wird, gleichzeitig leugnen wir alle Probleme und blenden sie aus. Was die Zukunft unserer Einwanderungsgesellschaften angeht, stützen wir uns auf überholte Theorien. Der Klimawandel wird kaum lösungsorientiert debattiert. Die im Grunde verbrecherische Energiewende, die in Afrika zur Umsiedlung von Millionen von Menschen führt, wird als nachhaltig dargestellt. Zu all dem würde es Lösungen geben – würde man diese Dinge offen angehen. So wie es momentan geschieht, sehe ich tatsächlich schwarz.
Alle Ihre Stücke sind hochgradig politisch. Sind klassische Theaterstücke einfach nur langweilig?
Lustigerweise gibt es in meinem aktuellen Stück zum ersten Mal seit langem klassische Momente: Die Schauspieler spielen eine Sequenz aus Tschechows «Kirschgarten». Vor sieben Jahren habe ich mit dem klassischen Theater aufgehört, weil es mich nicht mehr interessiert hat. Nun merke ich, wie das Interesse zurückkommt. Klassisches Theater ist grossartig, es braucht für mich aber einen absolut zwingenden Grund, etwas nicht mit meinen eigenen Worten zu sagen. Ich bin ein «Autor-Regisseur» und muss meine Stücke selber schreiben. Sie müssen einen Bezug zu mir und zu meiner Aktualität haben.
Was «The Civil Wars» angeht, sind die Figuren der Schauspieler interessanter und exemplarischer als die Figuren einer antiken Tragödie. Im Grund verhalte ich mich so, als wären wir alle Figuren aus einem antiken oder elisabethanischen Drama. Und dafür brauche ich dann natürlich kein Stück von Shakespeare mehr, sondern etwas, das ich woanders finde.
The Civil Wars
Mi, 27.8.–Sa, 30.8., 20.00
So, 31.8., 19.00
Rote Fabrik Zürich
Von Brot- und Herzjobs
Als sie von ihrem Besitzer geschlachtet werden sollen, weil sie zu nichts mehr nutze sind, fliehen Esel, Hund, Katze und Hahn gemeinsam Richtung Bremen. So beginnt das Märchen der Gebrüder Grimm über die Bremer Stadtmusikanten. Die Frage nach dem Wert der eigenen Arbeit hat auch bei der Produktion «Stadtmusikanten» den Ausschlag gegeben. Die junge Zürcher Regisseurin Anna Papst (* 1984) hat mit ihrer Theatergruppe papst&co. gemeinsam mit vier Musikern ein Stück entwickelt, das nach dem Verhältnis zwischen Brot- und Herzjobs fragt und die Musik vor Festanstellung und Wohlstand stellt. Die Musiker, die ihren Lebensunterhalt bisher mit Nebenjobs als Schafhirt, Reinigungskraft oder Velokurier bestritten, wollen sich nicht mehr über ihren ökonomischen Nutzen definieren lassen und gründen eine Band. Sie erzählen auf der Bühne von ihrer Not – und versuchen, musikalisch daraus auszubrechen. Mit Melina Gafner, Flo Götte, Sacha Leuenberger und Maxi Schmitz. Premiere.
Stadtmusikanten
Mo, 18.8.–Mi, 20.8., 19.30
Landiwiese Bühne Süd Zürich
Zürcher Theater Spektakel
An der 35. Ausgabe des Zürcher Theater Spektakels werden neben Theaterstücken wie immer auch Tanzproduktionen und Performances, Nouveau Cirque, Konzerte und Kunstinstallationen zu sehen sein. Die Schwerpunkte liegen auf Stücken aus dem Nahen Osten und solchen, die sich mit der Rolle des Künstlers in der globalisierten Welt befassen.
Eine von sechs Uraufführungen ist das Stück «The Civil Wars» des Schweizer Regisseurs Milo Rau (siehe Interview). Ausgehend von seinen Vorrecherchen im belgischen Salafistenmilieu hat sich Raus Stück im Verlaufe der Proben stark verändert. Nun rollt er anhand der Biografien der vier Schauspieler die Geschichte Europas in den letzten 30 Jahren auf. Im Zentrum stehen Themen wie Vaterlosigkeit, Ideologie oder politisches Engagement.
Zürcher Theaterspektakel
Do, 14.8.–So, 31.8.
Landiwiese, Rote Fabrik, Werft Zürich
Für alle Vorstellungen (auch die ausverkauften) sind an der Abendkasse noch Tickets erhältlich.
Weitere Infos unter: www.theaterspektakel.ch