Der Wirt zum «Glänzenden Horn» war Passivmitglied der Blasmusikgesellschaft Mühlwangen im Schwarzbubenland und rundete den Jahresbeitrag von 35 Franken immer auf 100 auf, und einmal im Jahr lud er die ungefähr zwei Dutzend Mann starke Formation zu einem Glas Weisswein, etwas Hobelfleisch, Käse und Brot ein.
Es mag zutreffen, dass diese Geste einer der Gründe war, weshalb sich Elisabeth König, Anna Lehner, Frieda Frank und Petra Urfer regelmässig zum Kartenspiel im «Glänzenden Horn» trafen.
Alle vier waren sie die Gattinnen aktiver Mitglieder der Musikgesellschaft.
Frieda war die Frau des Posaunisten Roland Frank. Eine glückliche Ehe. Von aussen gesehen vielleicht ein bisschen harmonischer als ihre Gefühle gegenüber dem Freizeitvergnügen ihres Mannes.
Es sei keineswegs ein Vergnügen, wehrte er sich gegen die Sticheleien, vor wichtigen Auftritten immer wieder die gleichen Takte spielen zu müssen, weil zum Beispiel Lorenz König, der Mann Elisabeths, zwischen den Proben zu wenig übe und das hohe f nie ganz sauber treffe.
Frieda konnte sich unter einem noch so hohen f nichts vorstellen, und als er es ihr vorspielen wollte, winkte sie ab.
Anna war seit zwölf Jahren mit dem Paukisten Pius Lehner verheiratet. Er brauchte zu Hause nicht zu üben. Wäre er auf die Idee gekommen, das unförmige Instrument in der Wohnung vor den Bauch zu hängen und draufzuhauen, sie wäre fähig, vermutete er, das Fell mit einem Küchenmesser aufzuschlitzen. Diese Vermutung, hätte er sie nicht bloss im «Glänzenden Horn» laut ausgesprochen, würde die lehnersche Ehe von der grösstenteils auf sicheren Schienen fahrenden Zweisamkeit auf ein Stumpengeleise geführt haben.
Petra Urfers Mann schlüpfte in die gewundenen Rohre eines Sousafons.
«Rolf kann von der Form seiner vollen Lippen her kein anderes Instrument als dieses Pausbacken blähende Monster spielen. Und da er von seiner Statur und Veranlagung her zum Ansetzen von Übergewicht neigt, muss er extrem darauf achten, dass er eines Abends nach der Probe nicht mehr aus den gewundenen Rohren kommt und sich mit dem ganzen Blech am Körper zu mir ins Bett legen müsste. Nicht auszudenken, mit welchen Konsequenzen unser bisher unkompliziertes Sexualleben konfrontiert würde.»
Der Wirt hatte das Gespräch der Frauen belauscht und die Quintessenzen an Rolf Urfer weitergeleitet.
«Was meine Frau von meinem Instrument hält, brauchst du nicht hinter vorgehaltener Hand zu kolportieren.»
Auch Elisabeth König machte sich wegen des Gewichts ihres Mannes Lorenz Sorgen und lag dem dritten Posaunisten ständig in den Ohren, er sollte sich zur Kasteiung seines Hungers auch auf ein Instrument verlegen, das seinem Körperumfang keinen Zentimeter mehr erlaube. Es gab in der Formation aber nur eine Position Sousafon. Lorenz hatte keine Chance zu wechseln, und Elisabeth König äusserte sich gegenüber ihren Spielpartnerinnen dahin, dass sie befürchte, die ehelichen Pflichten ihres Mannes könnten auch ohne ein Instrument wie aufgeblähte Innereien am Leib vor harte Proben gestellt werden.
Kinder brauchten keine mehr gezeugt zu werden. Alle waren sie Mütter von schulpflichtigen Mädchen und Buben.
Es war diese Mutterschaft, welche die Damen Frank, Lehner, König und Urfer zu einer Interessengemeinschaft zusammenschweisste.
Die wichtigen Musikfeste fanden im Juni, Juli und August statt, und das Marschieren, während eine Melodie im Viervierteltakt geblasen wurde, musste geübt werden. Der Präsident der Blasmusikgesellschaft, ein knapp 60-jähriger geschiedener und kinderloser Staatsbeamter, hatte in Erinnerung an seine zu früh verstorbene Mutter die auf alle Bläser überspringende Idee, jeweils am Morgen des Muttertags kreuz und quer durch Mühlwangen zu marschieren, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, die Marschparade zu üben und den Müttern gleichzeitig ein Ehrenständchen zu blasen.
Im ersten Jahr gab es noch verhaltenen Applaus. Im Jahr darauf antwortete Anna Lehner auf die Frage ihres Mannes, ob ihr die für sie gespielte Musik gefallen habe: «Geweckt hat sie mich!» Pius Lehner verstand nicht. Auch Frieda Frank schüttelte den Kopf: «Ausgerechnet am einzigen Tag im Jahr, an dem die Kinder alles tun, um mich ausschlafen zu lassen, haut Pius Lehner so laut auf die Pauke, dass ihr anderen das Bedürfnis verspürt, ihn mit euren Instrumenten übertönen zu müssen.» Roland Frank begriff nicht, weshalb seine Frau die muttertägliche Darbietung nicht zu schätzen wusste.
Als Frieda eines Abends den letzten Trumpf ausspielte und nur noch vier Böcke in der Hand hatte, klopfte sie die Karten eine nach der anderen auf den Teppich, rief laut und deutlich im Viervierteltakt durch das «Glänzende Horn»: «Fertig Marsch für Mütter!» Dass der Wirt den Frauen eine Flasche Weisswein, einen grossen Teller Hobelfleisch mit etwas Käse und Brot offerierte, blieb so lange ein blosses Gerücht, bis eines Abends ein paar Tische weiter hinten unter der Vitrine mit der Fahne und ein paar gewichtigen Pokalen ein Tambour, ein Hornist und der als Sousafonist verhinderte Posaunist miteinander ins Gespräch kamen.
«Von wegen Muttertag», sagte der Hornist, «selbst wenn die vier Frauen noch so zusammenhalten wie ein klassisches Streichquartett und sich über uns lustig machen, wenn auf der Probe die Pauke nicht gebraucht wird, haut der Pius bei Rolfs Petra genauso über die Stränge, wie sich der Rolf von deiner Elisabeth den Marsch blasen lässt.»
Lorenz König errötete, als ob er mit seiner Posaune ganz allein für Franz von Suppés ‹Leichte Kavallerie› zuständig wäre, erhob sich wortlos, legte einen Geldschein auf den Tisch und verliess das «Glänzende Horn».
Die Mühlwanger kamen vom eidgenössischen mit einer noch schlechteren Benotung als vom kantonalen Musikfest zurück.
Zwei Jahre später, kurz vor dem Muttertag, wurde über die Auflösung der Musikgesellschaft Mühlwangen abgestimmt.
Nur dank dem Stichentscheid des mittlerweile zum Präsidenten avancierten Wirts zum «Glänzenden Horn» wurde der Antrag abgelehnt.
Heinz Stalder
Der 77-jährige Schriftsteller ist in Bern aufgewachsen und war zuerst als Bau- und Kunstschlosser tätig. Später arbeitete er als Lehrer und Journalist. Stalder ist Verfasser von Hörspielen, Reportagen, Theaterstücken und Romanen. Sein jüngstes Werk «Bärenlieder» erschien kürzlich bei Pro Libro. Er lebt in Kriens LU und London.