Stranger than Fiction lautet der Titel einer Komödie von Marc Forster aus dem Jahr 2006. Emma Thompson spielt darin die Schriftstellerin Karen Eiffel, die für gewöhnlich ihre Protagonisten am Schluss der Geschichte sterben lässt. Aber Harold Crick, der Held in ihrem neusten Manuskript, will nicht sterben, da er sich soeben verliebt hat. Eine amüsante Ausgangslage.
Diese Menschwerdung einer Figur hat Vorbilder. Mit der Frage, was geschieht, wenn aus Fiktion Realität wird, hat sich bereits Goethe in der Ballade des Zauberlehrlings auseinandergesetzt, in welcher ein Besen zu einem Wasser schleppenden Knecht mu-tiert. Beim italienischen Schriftsteller Carlo Collodi und seinem Holzschnitzer Geppetto verwandelt sich eine aus einem Holzscheit geschnitzte Puppe in einen lebhaften kleinen Jungen. Was sich unterhaltsam anhört, erhält eine völlig andere Dimension, wenn es einem selbst geschieht.
Im Oktober 2009 erreichte mich eine Ansichtskarte aus Slowenien. Eine gewisse «Ana» sprach mich mit «Liebe Mama» an und teilte mir mit, dass ich ihr nicht nur diese Reise ermöglicht hätte, sondern sie bedankte sich auch dafür, dass ich ihr bei Reini und Lili geholfen hätte. Dazu muss man wissen: Ana heisst die Protagonistin in meinem Roman Dazwischen Lili, erschienen im Jahr 2008, und Reini ist ihr Ehemann, Lili ihre Schwiegermutter. Ich glaubte an einen einmaligen Scherz, aber es sollte nicht die einzige Karte bleiben.
«Ana» meldete sich aus Chur, Zirl, Neuburg an der Donau, Brixen, Pisa und Memmingen. Eine Karte aus Neuburg an der Donau zeigte ein aufgebahrtes Kind, darüber handschriftlich: «Luca ist nicht allein, keiner ist allein – ich glaube, ich kann anfangen, neu anfangen, ohne vergessen zu müssen.» In meinem Roman verlor Ana ihr Kind Luca durch einen Unfall. Auf der Rückseite der Karte stand: «Liebe Mama, M. hat mir San Michele gezeigt, ist lange mit mir im Regen herumgegangen. Ich fand die Kindergräber im Hof, ein grosser Wald mit vielen Kreuzen. Vor dem Grab der Teresina Morinetti brach ich fast zusammen. M. hielt mich fest in seinen Armen, damit ich nicht in den Schlamm sank. Teresina hätte Lucas Zwillingsschwester sein können, und sie ist auch am selben Tag gestorben.» In meinem Buch steht nirgends, wann das Kind Luca ums Leben kam.
Aus Spanien teilte mir die Kartenschreiberin mit, dass Schwiegermutter Lili gestorben sei. Es folgten weitere Karten aus Birkenau, Dresden und Berlin. Aus Frankreich erreichte mich folgender Text: «Liebe Mama, ein grosser, weisser, nackter Mann sprang mit einer lebensgrossen, prallen, schwarzen, nackten Aufblaspuppe von der Brücke. Es war komisch, wie sie am Ende des Seils auf und ab hüpften. Wenn ich von der Brücke springe, nehme ich kein Seil, und ich denke, es hat noch drei Monate Zeit. In Liebe, Deine Ana.» Es folgten weitere Karten aus Bari, Venedig und Albanien. In Kairo verabschiedete sich die Kartenschreiberin von mir als ihrer «Mama».
Insgesamt erhielt ich mehr als zwanzig Ansichtskarten, die oft aufwendig und schön gestaltet waren. Manchmal machte sie mir Vorwürfe, offenbar war ich der Mutterrolle nicht immer gerecht geworden. Einmal bedauerte sie, mir nie richtig in die Augen geschaut zu haben und sich deshalb an meine Augenfarbe nicht mehr erinnern zu können. In meinem Roman war die Mutter von Ana längst verstorben, dies erfuhren die Leser bereits auf der ersten Seite. Die unbekannte Kartenschreiberin hielt sich hartnäckig an die Figuren meines Buches. Ausserdem erzählte sie mir mit dem Verlauf ihres aktuellen Lebens eine Fortsetzung meines Romans, der einen offenen Schluss hat. Sie schrieb von sich als von einer «Ana», die zwar einen neuen Partner gefunden hatte, aber dennoch nicht beziehungsfähig war. Mehrere Male deutete sie an, sich das Leben nehmen zu wollen.
Die anonymen Mitteilungen wühlten mich auf. Oder sie ärgerten mich. Oder sie verunsicherten. Dann wiederum liessen sie mich völlig kalt. Oder ich fragte mich: Wer tut so etwas und warum? War ich moralisch verpflichtet, sie zu suchen? War sie suizidal? Waren das Hilferufe?
Zuweilen beschlich mich das Gefühl, «Ana» könnte einmal vor meiner Haustür stehen. Denn sie hatte meine Adresse, aber ich ihre nicht. Ich hatte nicht einmal ihren Namen. In dieser Zeit veranlasste ich, dass meine Telefonnummer nicht mehr im Telefonbuch zu finden war, denn parallel zu den Postkarten gab es auch seltsame Anrufe. Stalking? Nach einigen Monaten erwachte die Journalistin in mir und ich begann zu recherchieren, analysierte das Schriftbild, scannte die Postkarten und mailte sie an verschiedene Leute. Ich fragte im Bekanntenkreis herum, ob jemand die Handschrift kenne. Ohne Erfolg. Nach mehr als einem Jahr hörte der Spuk plötzlich auf. Die unbekannte Kartenschreiberin «Ana» ist bis heute ein Gespenst für mich geblieben.
In meinem aktuellen Roman Ganz oben, der im Februar dieses Jahres im Lenos Verlag erschienen ist, befindet sich die Hauptfigur, der Rechtsmediziner Olivier Kamm, am Anfang der Geschichte in einem geschlossenen Raum. Er kann sich aber nicht erklären, wo oder warum, glaubt, in einer Gefängniszelle einzusitzen und vermutet, dass es bald zu einer Gerichtsverhandlung kommen wird. Dabei erliegt er einer Täuschung nach der anderen. Am Schluss lasse ich meinen Helden immer noch einsitzen. Warum? Damit er nicht plötzlich vor meiner Haustür steht.