Die bodenlose Dunkelheit kommt manchmal völlig unerwartet über Lucy Barton. Etwa, wenn sie in ihrem Wohnort New York einen sonnigen Gehsteig entlangschlendert: Aus dem Nichts sind sie da, die Ängste aus der Kindheit, die Erinnerungen an die Einsamkeit. «Vermutlich schlingern die meisten so durch ihr Leben, halb wissend und halb blind, bedrängt von Erinnerungen, die unmöglich wahr sein können», sagt sich Lucy. Dennoch fühlt sie sich als Aussenseiterin, wenn sie andere Menschen anschaut, die «mit Selbstvertrauen» und «gänzlich frei von Ängsten» auftreten.
Wiedersehen ohne klärende Antwort
AntwortDie Protagonistin im neuen Roman der 60-jährigen Pulitzerpreisträgerin Elizabeth Strout ist in einem winzigen Ort im US-Bundesstaat Illinois aufgewachsen. Armut, Gewalt und emotionale Vernachlässigung prägten die Kindheit von Lucy und ihren beiden Geschwistern. Im Dorf wurden sie gemieden, niemand kümmerte es, wenn ein Kind mit blauen Flecken in der Schule auftauchte. Doch Lucy hat sich befreit aus dem Sumpf. Sie hat ein College besucht, mit einem Mann aus wohlbehütetem Haus zwei Töchter bekommen und ist Schriftstellerin geworden. Nun schreibt sie im Rückblick die Geschichte ihres Lebens.
Am Krankenbett in New York, wo sie als junge Frau wegen einer schweren Infektion liegt, beginnt ihre Geschichte. Unerwartet erhält sie dort Besuch von ihrer Mutter, die sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. «Sie zu sehen, meinen Kindernamen zu hören, mit dem mich eine Ewigkeit niemand mehr angeredet hatte, erfüllte mich mit einem warmen, flüssigen Gefühl, als wäre die Anspannung in mir eine feste Masse gewesen, die sich nun auflöste.» Die beiden überspielen die emotionale Situation und plaudern über Belanglosigkeiten, über die Eheprobleme von Bekannten. Die Mutter bleibt tagelang an Lucys Bett. Nur manchmal streifen sie die Ereignisse aus der Kindheit. Doch all die drängenden Fragen traut sich die Tochter nicht zu stellen. Manchmal zweifelt sie an ihren eigenen Erinnerungen.
Auch für die Leserin bleiben viele offene Fragen: «Diese Sache», nennt Lucy etwa die «seltsamen Zustände der Beklemmung und Erregung», in denen der Vater jeweils die Kontrolle über sich verlor – «den beängstigendsten Teil meiner Kindheit». Wie so vieles andere bleibt «diese Sache» unausgesprochen. Elizabeth Strout scheut die Leerstellen in ihrem Roman nicht und zeigt ein grosses Gespür für die Zwischentöne.
Das Weltbild einer Frau mit zerrütteter Kindheit
«Mütter sind dazu da, ihre Kinder zu beschützen», sagt die Mutter in einem seltenen Moment der Zärtlichkeit zur erwachsenen Lucy am Krankenbett. Dass ihr dies nicht gelungen ist, weiss sie genauso wie die Tochter. Trotz aller Lieblosigkeit, die ihr die Mutter entgegenbrachte, besteht zwischen den beiden aber eine Bindung, eine «unvollkommene Liebe».
Elizabeth Strout entwirft in ihrem feinfühligen Roman das Weltbild einer Frau mit zerrütteter Kindheit. In eindringlicher Sprache, die direkt aus Lucys Feder stammen könnte, beschreibt sie, wie die Verletzungen aus der Kindheit in der Gegenwart nachhallen. Mit dem Aufschreiben ihrer Geschichte kommt Lucy ihrer Wahrheit näher – und macht sie ein Stück weit erträglicher.
Buch
Elizabeth Strout
«Die Unvollkommenheit der Liebe»
Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth
208 Seiten
(Luchterhand 2016).