Wieder einmal wurden zum Jahresende all die Auf- und Absteiger des Jahres erkürt. Einen Absteiger aber suchte ich dabei umsonst unter den Kandidaten: den Pandabären. Alle Pandabären-Freunde werden mir da zustimmen, sind sie doch in diesem Jahr an 99 von 100 Türen abgeprallt mit ihrer Frage «Genzi au öppis für d’Erhaltig vode Panda-…» Weiter kamen sie selten, schon schlug die Tür ins Schloss, begleitet vom Satz «Jowohrschinnli spend ich was für diese Pandemie, als ob wir nicht genug hätten an einer!» Wumm! Aber auch ohne sprachliches Missverständnis standen die Zeichen schlecht für diesen liebenswerten Vegetarier, da er auch noch aus der chinesischen Provinz Sichuan stammt.
Zum Leidwesen von Lippenstiftherstellern
Der Aufsteiger des Jahres, die Gesichtsmaske, geht allerdings in Ordnung für mich. Ich teile auch die Prognose, dass er es im neuen Jahr bleiben wird. Natürlich zum Leidwesen von Lippenstiftherstellern, von Aktenzeichen-XY-Hobbyjägern sowie aller Freunde der Erhaltung des menschlichen Antlitzes generell, zu denen auch ich mich zähle. Zu unserem Trost kann immerhin gesagt werden, dass diese Vertikalscheuklappen schon in einem Jahr nicht mehr zum selben ästhetischen Abwehrreflex führen werden, wie sie es letztes Jahr taten. Schon Goethe liess ja seinen Mephisto ausrufen: «Es kommt nur auf Gewöhnung an / so nimmt ein Kind der Mutter Brust / nicht gleich am ersten Tage willig an.» Ja – jeder Schmerz, auch der durch visuelle Verunstaltung hervorgerufene, wird nach und nach lebenstauglich. So durchschreiten wir zum Beispiel fast schon schmerzfrei die zahlreichen abweisend leblosen Innenstädte oder Dorfkern-Karikaturen in Agglogemeinden.
Von Plastikhauben und Überziehschuhen
Viele ursprünglich anstosserregende Anblicke haben sich mittlerweile sogar ins Gegenteil mutiert, in hochwillkommene Lebensbereicherungen. So ist etwa eine kleine Geschichte rund um den Zuger Bundesrat Philipp Etter überliefert. In den späten 1950er-Jahren hatte er sich geweigert, bei einem Antrittsbesuch bei der neu eröffneten Schokoladenfabrik Maestrani in St. Gallen ein hygienesicherndes Plastikhäubchen überzuziehen beim Betreten der Fabrikationsräume. So etwas Weibisches, wurde der hohe Magistrat zitiert, weigere er sich glatt überzuziehen, worauf nichts wurde mit dem Besuch und er stattdessen eine nahe gelegene Stickereifabrik mit seiner Aufwartung beehrte. Ob dieses Verhalten vom restlichen Bundesratskollegium diskutiert wurde, ist nicht bekannt, es darf aber angenommen werden: Keine zehn Jahre später war es Bundesrat Willi Ritschard, der sich pionierhaft erstmals ein solches Plastikhäubchen überstülpte, obwohl dies gar nicht nötig war, denn es war keine Schokoladen-, sondern eine Uhrenfabrik, die sich darauf prompt zur Weltmarke emporschwang.
Damit war der Bann gebrochen, die Bundesräte übertrafen sich gegenseitig förmlich mit Fabrikbesichtigungen in Plastikhäubchen oder Überziehschuhen aus Plastik oder in beidem zusammen. Höhepunkt dieser Eskalation war das Erinnerungsfoto von Bundespräsident Rudolf Gnägi, auf dem er mit dem ghanesischen Diktator Mobutu vor einem Geschwader Kampfhelikopter der Pilatus Flugzeugwerke AG posierte – beide in blau getönten Schutzhäubchen.
Sich per Strick aus dem Verkehr ziehen
Man sieht, hygienische Gesichtszubehöre taten sich seit jeher schwer auf dem Weg zur akzeptierten Selbstverständlichkeit. Wobei ich zugebe: Das Beispiel ist nur bedingt tauglich, da es aus dem begrenzten Kreis von Bundesräten stammt. Ein noch viel besseres folgt sogleich. Es betrifft die Krawatte.
Nur wenige wissen heute, dass die Erfolgsgeschichte dieses beliebten Accessoires circa Mitte des 14. Jahrhunderts begann, also während der berüchtigten Seuche, die zu dieser Zeit in Europa herrschte. Wenn auch noch nicht in der heutigen Form, sondern als – Strick. Je dramatischer die Seuche um sich griff, je massiver wucherte die Angst vor Ansteckung in der Bevölkerung. So sehr, dass jedermann, der ohne Strick auf die Strasse hinaustrat, Gefahr lief, gesteinigt zu werden. Denn Verseuchte hatten sich – so lautete das Notstandsgesetz – auf der Stelle per Strick aus dem Verkehr zu nehmen, sobald sie körperliche Anzeichen von Verseuchung aufwiesen (das betraf vor allem Männer, denn Frauen traute man das Aufknüpfen nicht zu, abgesehen davon, dass Frauen ausser Haus eh nichts verloren hatten). Dieser Gruppendruck mag für zeitgenössische Ohren mittelalterlich brutal klingen, hat sich aber, das sei am Rande vermerkt, bis heute ganz gut gehalten. Man denke etwa nur an die steinigenden Blicke, die Velofahrer ohne Helm zu erdulden haben, herrührend vom Gemeinschaftsgedanken: Schau dort, wieder einer, für dessen vermatschtes Gehirn wir zu tragen haben!
Begehrlichkeiten schaffen dank Mundschutz
Aber zurück zum Strick. Er wusste sich als Halszubehör zu halten, auch nachdem sich die Seuche wieder dorthin zurückzog, wo sie hergekommen war: postpandemisches Zeichen von Coolness, «ich bin bereit, das Haus zu verlassen!». Und wie immer bei Übermut, nach überstandenen Katastrophen, schlägt die frühere Angst um in Daseinsfreude: Man beginnt das Symbol zu ästhetisieren, die diversesten Formen von Strickabwandlungen entstanden und notabene auch die heimische Textilindustrie.
Trotz unserer Gewöhnungsnatur mag sich etwas sträuben in uns, der Mund-/Nasenmaske eine ähnlich steile Karriere in der Mode-Branche vorauszusagen. Aber denkbar ist es schon, dass dem Anblick eines menschlichen Mundes künftig eine Begehrlichkeit bevorsteht, die immens ist, und die nur mit den sekundären Geschlechtsmerkmalen der Frau verglichen werden kann. Und mit dieser begann immerhin der traumhafte Aufstieg eines Wäschestücks, dessen Sache einem ähnlichen Ziel galt: der Abdeckung.
Flair fürs Skurrile
Der St. Galler Kabarettist Joachim Rittmeyer ist seit 1974 mit seinen skurrilen, satirischen und musikalischen Bühnenprogrammen unterwegs. Für sein unverwechselbares Schaffen erhält er in diesem Jahr den Salzburger Ehrenstier. Sobald die Theaterhäuser wieder ihre Tore öffnen können, wird er mit seinem Soloprogramm «Neue Geheimnische» und der Duo-Komödie «Der letzte Piepser» mit Patrick Frey auf Tournee sein. Joachim Rittmeyer lebt in Basel und im Jura. (bc)
www.joachimrittmeyer.ch