Hausdurchsuchung und Verhaftung erfolgen am 23. Juni 1941. Alles zusammen dauert sechs Stunden. Ein Routinevorgang, und doch ist die Atmosphäre angespannt – tags zuvor hat Deutschland der Sowjetunion den Krieg erklärt.
Während die Brester Festung dem ungeheuerlichen Druck der Faschisten standhält, wird die Hauptstadt der Sowjetunion von einer Welle unauffälliger Beschlagnahmungen überrollt. In Wohnungen und Parks, in Instituten und Volkskommissariaten werden potenzielle Spione gefasst.
Trotz des Ausmasses der Aktion ist die Zahl der Verhaftungen gar nicht so hoch – gerade mal 1077 Personen sind es, in denen die wachsamen sowjetischen Behörden Verräter und Trotzkisten, bakteriologische Saboteure und «Sonstige» erkennen (für die Festnahme genügt auch diese Kategorie). Es sind nur mehr wenige, weil die sowjetischen Beamten den Grossteil ihrer Listen schon 1937 abgearbeitet haben, als sie über hunderttausend Menschen wegen des blossen Verdachts auf pro-polnische Umtriebe zum Tod durch Erschiessen verurteilten (111 091 Bürger, um genau zu sein). Tatsächlich zählte der polnische Geheimdienst auf der ganzen Welt keine zweihundert Agenten, aber was solls, Liebste, du kennst ja den Eifer unserer Behörden, wenn es um Vernichtung geht.
«Wem dus heute kannst besorgen, den verschone nicht bis morgen», merkt einer der Tschekisten an, während er meine Bibliothek zerlegt. Von ihrer Grobheit dreht es meiner winzigen Wohnung den Magen um, mich führen sie auf die Strasse hinaus.
Zum Zweck der Ermittlungen nehmen sie meinen Wehrpass mit, Notizbücher (6 Stück) und allerlei Aufzeichnungen (30 Blatt). Ausserdem interessieren die Genossen Koslow und Ljagin, die die Durchsuchung leiten, Adressen und Telefonnummern (auf 76 Blättern), persönliche Korrespondenz (fast 200 Seiten) und drei Bücher: über Magie, über die freikirchliche Gemeinschaft der Stundisten und über Karma-Yoga.
Am gleichen Abend bringen sie mich ins Gefängnis des Kommissariats für Staatssicherheit, wo sie mich fotografieren, meine Personalien erfassen und mir meine Sachen weg- nehmen:
graue Decke – 1 Stk.
Leintücher bw – 2 Stk.
Handtuch – 2 Stk.
Kissenbezug – 2 Stk.
Taschentücher – 6 Stk.
Hemden div. – 2 Stk.
Unterhose bw – 1 Stk.
Socken div. – 2 Paar
Zahnbürste – 1 Stk.
Seife – 1 Stk.
Serviette – 1 Stk.
Das alles habe ich überstürzt eingepackt, das alles ist jetzt natürlich nutzlos.
Später in der Zelle fange ich nicht an zu jammern, ich weine nicht und schlage nicht mit dem Kopf gegen die Wand. «Ein Irrtum!» – oh nein, ich liege den Wächtern nicht mit solchen Dummheiten in den Ohren. Sinnlose, banale Äusserungen menschlicher Emotionen sind meine Sache nicht. Stattdessen setze ich mich auf den kalten Boden und betrachte ohne besonderes Interesse meinen Mithäftling, den Zinker, der den Auftrag hat, mich zu verpfeifen:
«Erschiessen sie dich?», fragt er taktlos. «Nein.» «Wieso nicht?» «Weil sie zwar meine sechs französischen Taschentücher konfisziert haben, mir aber trotzdem ein sowjetisches Leintuch aushändigen …» Der Tod ist meine erste Kindheitserinnerung, schreibe ich eines Tages, lange vor meiner Verhaftung, in eins der Tagebücher, die sie jetzt mitgenommen haben. Jeden Tag, wenn meine Mama und ich zusammen aus dem Haus gehen, egal wohin, führt unser Weg durch den Dorffriedhof. Manchmal bleibt Mama bei einem bestimmten Kreuz stehen, meistens geht sie beschleunigten Schrittes daran vorbei. Eins ist gewiss: Auch wenn wir in eine ganz andere Richtung müssen, sind wir jeden Tag kurz hier – wie in einem Bannkreis. Eines Tages, als ich schon buchstabieren kann, fällt mir auf, dass auf diesem Kreuz mein Name steht. «Mama, ist das für mich? Legen sie mich da hinein, wenn ich gross bin?»
«Aber nein, du Dummerchen. Hier liegt einer deiner Verwandten. Du wurdest nach ihm benannt. » Jeden Tag gehen wir an dem Grab mit meinem Namen vorbei, und ich nehme mir fest vor, niemals zu sterben … «Und wisch dir bitte das Blut ab», sagt Mama liebevoll zu mir. Wie du weisst, hatte ich als Kind schon schwache Gefässe.
Das erste Moskauer Verhör verläuft zügig und nicht frei von Komik. Der Ermittler gratuliert mir zum baldigen fünfundfünfzigsten Geburtstag und behauptet, vor ihm sitze ein Spion. Für welchen Geheimdienst ich arbeiten soll, verrät er nicht, dafür schnalzt er, als er, ohne den Blick zu heben, die noch mädchenhaft schlanke Aktenmappe aufschlägt, gekünstelt mit der Zunge und fügt nur hinzu, dass mir, Nesterenko Pjotr Iljitsch, Artikel 58 droht, also eine Anklage als Volksfeind.
«Und?», frage ich gelassen. «Ab-füh-ren!», bellt er plötzlich. Fehlstart. Nächster Versuch. Im Laufe von vier Monaten wiederholt sich diese absurde Szene immer wieder. Wie einen Gymnasiasten heisst mich der Ermittler auf einem Stuhl Platz nehmen, liest mir die Leviten und stellt mir nutzlose Fragen. «Wer? Wozu? Warum?» Dann versucht er mich einzuschüchtern, weil er aber keine Zeit hat für eine richtige Folterung (solche wie mich hat er scharenweise), tut er das immer recht oberflächlich und einfallslos. Jedes Mal, wenn er sich wieder davon überzeugt hat, dass ich mich nicht selbst belasten werde, seufzt der Vernehmungsbeamte schwer und lässt mich abführen. So was Dummes, wir stecken fest.
Buch
Sasha Filipenko - Kremulator
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
(Diogenes 2023)
Erscheinungstermin: Mi, 22.2.
Sasha Filipenko
Sasha Filipenko (* 1984 in Minsk) ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und Fernsehmoderator. Bis 2020 wohnte er in St. Petersburg. Dann musste er mit seiner Familie Russland verlassen und lebt heute in der Schweiz. In seinem Roman «Kremulator » spielt er mit historischen Dokumenten und Fiktion. Im Mittelpunkt steht Pjotr Nesterenko, Direktor des Moskauer Krematoriums, der in der Stalin-Zeit verhaftet wird und im Verhör Rede und Antwort über sein turbulentes Leben stehen muss.