«Herkunft sind die süss-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben. Sie ist Zugehörigkeit, zu der man nichts beigesteuert hat.» Und: «Herkunft ist Krieg.» Das sind zwei von vielen möglichen Definitionen zu einem kontrovers diskutierten Begriff, die der 1978 in Višegrad geborene Saša Stanišić in seinem neuen Buch gibt. Als 14-Jähriger ist er mit seiner Mutter nach Deutschland geflohen. Ein halbes Jahr später kommt der Vater nach, «mit einem braunen Koffer, einer Schlaflosigkeit und einer Narbe am Oberschenkel». Seine Mutter, ausgebildete Politologin, findet Arbeit in einer Wäscherei. Den Vater, Betriebswirt, verschlägt es auf den Bau. Die Familie lebt in einer Hochhaussiedlung in einem Vorort von Heidelberg, in permanenter Angst vor der Abschiebung. 1998 müssen seine Eltern Deutschland verlassen, Saša Stanišić selbst hat dank seinem Sprachtalent Glück: Er erhält eine Aufenthaltserlaubnis, die an seine Tätigkeit als Schriftsteller gebunden ist.
Und genau das macht er seither mit Furor, mit grosser Fabulierkunst und mit Erfolg: Sein Debüt «Wie der Soldat das Grammofon repariert» wurde in 31 Sprachen übersetzt. Sein Roman «Vor dem Fest» war ebenfalls ein Bestseller und wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Die Themen Migration und Zugehörigkeit ziehen sich durch sein Werk. Mit seinem vierten Buch «Herkunft» hat er nun sein persönlichstes Werk geschrieben: Er changiert darin zwischen Roman, Essay und Autobiografie, verknüpft Erinnerungen mit Fantasie, mal verspielt, mal reflektierend.
Ein buntes Erinnerungs-Mosaik
Eine wichtige Rolle spielt seine geliebte Grossmutter Kristina. Kurz bevor sie an Demenz erkrankte, hat er mit ihr noch das bosnisch-herzegowinische Bergdorf Oskoruša besucht. Dort hatte sie vor vielen Jahren ihren Mann Pero kennengelernt – beim Besuch 2009 lebten nur noch 13 Menschen im Ort.
Virtuos springt Stanišić zwischen den Zeiten, Motiven und Figuren hin und her, erschafft ein buntes Erinnerungs-Mosaik, traurig und lustig zugleich. Eine Schlange und einige Drachen kommen darin vor und zahlreiche Reisen in die Vergangenheit: zu seinen Ahnen und in die eigene «zärtliche Kindheit ohne Strenge» in Jugoslawien, als die Fussballmannschaft «Roter Stern Belgrad» noch in einem vereinten Land mit diversen Ethnien und Religions-zugehörigkeiten den Meistertitel holte – heute ist sie eine Mannschaft mit zahlreichen rechtsradikalen, aggressiven Fans. Und in die Zeit nach dem Kriegsausbruch, nach der Flucht: Stanišić erzählt etwa, wie er an der Aral-Tankstelle am Rande von Heidelberg Freunde aus den unterschiedlichsten Ländern findet. Oder wie er – dank einem Deutschlehrer, der sein Talent erkennt – die Freude an der neuen Sprache entdeckt.
Dazwischen findet die Gegenwart ihren Platz: «Heute ist der 21. September 2018. Wäre am nächsten Sonntag Bundestagswahl, käme die AfD auf 18 Prozent der Stimmen.» Mit Poesie liefert der heute in Hamburg lebende Schriftsteller seine eigenen Antworten auf aktuelle nationalistische Tendenzen. Er selbst hat Ausgrenzung erfahren, hat zu hören bekommen, «was man denn zu sein hat als Geflüchteter, als jemand aus dem Balkan». Die gängigen Klischees unterwandert er in seinen Büchern mit viel Fabulierlust, mit Humor und Empathie.
Fantasievoll und berührend
Wahrheit und Erfindung lassen sich schwer trennen, Erinnerungen sind beim Autor oft fiktiv durchtränkt. Mit dem Erzählen erschafft er eine eigene Welt – so wie sie ist oder wie sie im besten Fall sein könnte. «Eine gute Geschichte ist wie früher unsere Drina war: nie stilles Rinnsal, sondern ungestüm und breit. Zuflüsse reichern sie an, sie brodelt und braust, tritt über die Ufer», lässt er seine Grossmutter im Buch sagen – und trifft damit auch seine eigene Erzählweise.
Fantasievoll und berührend auch der Schluss, den sich die Leser selbst zusammenstellen können, indem sie aus verschiedenen Fortsetzungen auswählen – wie in den «Choose-your-own-adventure»-Büchern der 80er-Jahre, die Saša Stanišić als Kind entdeckt hatte und die heute in Serien wie «Black Mirror: Bandersnatch» wieder populär sind. Am Ende begibt er sich mit seiner Grossmutter bei einem Besuch im Altenheim im bosnisch-herzegowinischen Rogatica auf eine letzte abenteuerliche Reise. Sie führt zu den Drachen ins Gebirge, zu den Verstorbenen. Mit dem Erzählen hält er seine Grossmutter am Leben. «Niemals aufhören, Geschichten zu erzählen», ist eine der Optionen, die man als Leserin wählen kann. Und ebendies will man auch dem Schriftsteller zurufen.
Buch
Saša Stanišic´
Herkunft
368 Seiten
(Luchterhand 2019)
3 Fragen an Saša Stanišic´
«Fiktionen sind tückische Freunde»
kulturtipp: In Zeiten, in denen Nationalisten wieder auf dem Vormarsch sind, sind «Heimat» und «Herkunft» zwiespältig besetzt. Wie stehen Sie zu diesen Begriffen?
Saša Stanišic´: Heimat ist ein strukturell regressiver, meist repressiver und anti-emanzipatorischer Begriff. Es ist die Illusion von einem Zustand oder Gefühl, das stets einer Abgrenzung eines Innen von einem Aussen dient, eines «Wir» von einem «Ihr». Die Frage, was Heimat für jeden Einzelnen bedeutet, lässt sich natürlich dennoch stellen. Aber eigentlich wäre es schön, wenn eher gefragt würde: Was tut jeder Einzelne für einen Ort, statt, wer zu einem Ort gehört. Herkunft ist eine ewige Erkundung der eigenen Biografie nach dem, was Halt geben könnte, was unveränderlich ist. Davon gibt es ebenfalls manch eine Illusion.
«Herkunft» ist Ihr bislang persönlichstes Buch, in dem Sie eine Reise in die Vergangenheit unternehmen. Was waren die Herausforderungen beim Schreiben?
«Herkunft» ist ein Erinnerungsprojekt, mit dem ich erzählerische Diagnosen der Gegenwart versuche – anhand von Beispielen aus der eigenenVergangenheit. Die Geschichte wiederholt sich: Wenn ich von meinen Erinnerungen der 90er-Jahre als Geflüchte-ter in Deutschland spreche, spreche ich indirekt auch über Erfahrungen der Geflüchteten heute. Um diese Erfahrungen anschaulich darzustellen, war es notwendig, die Familie miteinzubeziehen in die Recherche und in den Text. Das war nicht einfach, weil Familie meist nicht einfach ist. Aber es tat uns, glaube ich, allen gut, über Dinge zu sprechen, die in unserer Vergangenheit wichtig waren, die uns zu den Menschen machen, die wir heute sind.
War die Demenz Ihrer Grossmutter der Auslöser für das Buch – hat sie, welche die Erinnerungen verlor, Sie auf den Pfad der Erinnerungen gebracht?
Meine Grossmutter war in erster Linie ein feiner Mensch. Ein standhafter, zäher Mensch, den ich immens geliebt habe. Immer an einem Ort geblieben, am Ort, an dem sie immer schon war. Ihre Demenz hat sie zuletzt stark mitgenommen. Sie wusste nicht mehr, wo ihr Zuhause ist, wo ihr Mann ist, wer wir sind, ihre fremde Familie. Fiktion entpuppte sich als «heilender» Lückenfüller ihrer Erinnerungslücken – eine gelungene Methode, ihre Frustrationen kleinzuhalten, die sich einstellten, wenn ihr Dinge nicht einfielen oder sie verwirrt war. Ich erzählte ihr also eine Geschichte, und sie vergass ihre Wut (meist). Die Demenz ist ein tückischer Feind. Fiktionen sind tückische Freunde.