Der Vater kümmert sich um bedrohte Tierarten, die Mutter um ihre Skulpturen. Nur um das Kind kümmert sich niemand so richtig. Über seine Sorgen und Ängste unterhält sich das Mädchen mit einem imaginierten Engel.
Dass etwas nicht stimmt, merken die Eltern zwar und ziehen einen Heiler zu Rate. Er soll gegen das Bettnässen und die Seele, die ein Leck hat, helfen. Doch das Kind zieht sich zunehmend in sich selbst zurück.
Strategien des Verdrängens
Was ist los in dieser Kleinfamilie, die Anfang der 90er-Jahre in einem Schweizer Bergdorf lebt? Und welche unheilvolle Rolle spielt der Nachbar Ege, bei dem das Mädchen viel Zeit vor dem Fernseher verbringt?
Diese Fragen bleiben in der Schwebe. Aus Gedanken- und Erinnerungssplittern, aus den Fantasien des Mädchens und den Gesprächen mit dem Engel kristallisiert sich nach und nach ein Bild heraus. Aber es bleibt unscharf, verwackelt, so wie man sich auch die Filmaufnahmen des abgehalfterten Medientheoretikers Ege vor - stellt, der einst als Professor in Berlin lehrte und nun kruden Theorien nachhängt.
Seine Partnerin Gisela wiederum flieht vor der Beziehung, die keine mehr ist, indem sie Ege mit Alkohol versorgt und meist auf dem Sprung in die nächsten Ferien ist. Wegschauen und Verdrängen sind bei ihr an der Tagesordnung – so wie auch die Eltern nicht genau hinschauen mögen, da sie mit ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt sind.
Im Alt-68er-Milieu allein gelassen
Sarah Elena Müller begleitet das Mädchen, das in ihrem Roman bezeichnenderweise ohne Namen bleibt, auf dem Weg vom Kindergartenkind zur jungen Frau. Lange bleibt es handlungsunfähig, führt ein «Leben ohne Arme», wie vor ihr die Mutter und die Grossmutter. Mit Sprache geht die Autorin gegen die niederschmetternde Sprachlosigkeit des Umfelds an.
Sie umkreist die Leerstellen, all das Nichtgesagte, in sich wiederholenden Motiven und lässt die Leserinnen und Leser lange im Unklaren über das Geschehen. In starken Metaphern gibt sie die kindliche Logik wieder und zeigt ein zutiefst verunsichertes, allein gelassenes Mädchen, das sich zurechtzufinden versucht, indem es sich eine eigene Fantasiewelt baut.
Bildstarker Debütroman
Gleichzeitig blendet die Autorin die Sicht der Erwachsenen ein, die sich in ihrem scheinbar von allen Zwängen befreiten Alt68er-Milieu rebellisch vorkommen, aber das Leiden des Kindes schlicht übersehen.
Mit «Bild ohne Mädchen» hat die in Bern lebende Ostschweizer Schriftstellerin ein bildstarkes Debüt geschaffen. Bisher ist Sarah Elena Müller vor allem durch multimediale Arbeiten im Bereich Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Performance aufgefallen, in der sie die Sprache in allen Facetten umkreist. So leitet sie seit 2019 etwa das Virtual-Reality-Projekt «Meine Sprache und ich», eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik, oder sie tritt im Mundart-Pop-Duo Cruise Ship Misery auf.
Mit diesem Roman erklingt nun eine aufregende neue literarische Stimme.
Sarah Elena Müller
Bild ohne Mädchen, Limmat 2023,
208 Seiten
Lesungen
Sa, 19.8., 20.00
Literaturhaus Thurgau Gottlieben
Do, 24.8., 19.00 Adlergarten Winterthur ZH
(mit Lukas Bärfuss und Musik von Marcel Sprenger: www.lauschig.ch)
«Figuren in ihrem Schmerz verstehen»
kulturtipp: Sie haben acht Jahre am Roman gearbeitet, zahlreiche Gespräche mit Opfern von sexuellem Missbrauch geführt, gar mit einem Täter gesprochen. Wie liefen diese Recherchen ab?
Sarah Elena Müller: Viel Zeit und Geduld zu haben, war essenziell für die Gespräche und die Vertrauens basis. Der Blick der Betroffenen auf die Geschehnisse wandelt sich im Lauf der Zeit. Im Gespräch war ich auch mit Angehörigen oder Fachstellen, die sexuellen Missbrauch an Kindern behandeln. Oder mit einem Cyberforensiker, der im Auftrag der Polizei oder Staatsanwaltschaft kinderpornografische Aufnahmen durchgehen muss. So sind in meinen Roman die Fragen eingeflossen, unter welchen Bedingungen solche Aufnahmen stattfinden und was die Beweggründe der Erwachsenen sind.
Sie haben Sie all das Gehörte zu Literatur verdichtet?
Es war klar, dass die literarische Form unabhängig von der Recherche funktionieren muss. Mich interessierte die poetische Auseinandersetzung mit dem Schwebezustand der Figuren. Es ist unklar, wie viel sie wissen und wie viel sie verdrängen. Ich habe angefangen zu schreiben, ohne dass ich die genauen Figuren vor mir hatte. Anfangs habe ich Gefühlszustände niedergeschrieben, innere Widerstände oder Vorurteile verhandelt. Erst später liessen sich die Passagen einzelnen Figuren zuordnen. Sie nehmen nicht nur die Perspektive des Mädchens ein, sondern auch die des Täters und die der verdrängenden Erwachsenen.
Warum?
Ich will die Figuren in ihrem Schmerz verstehen. Das Kind legt sich das erlebte Leid in der Fantasie zurecht. Es war mir aber auch wichtig, nicht nur durch die Interpretationen des Kindes zu zeigen, was in den Erwachsenen vorgeht. Was sind das für Menschen, aus welchem geistig-philosophischen Umfeld kommen sie, welche Kämpfe haben sie in ihrem Leben ausgetragen?
Sie beschreiben im Roman ein Künstlermilieu mit einem Täter, der sich alles mit seinen kruden Ideologien zurechtlegt und sich keiner Schuld bewusst ist. Was bildet hier den Nährboden für sexuellen Missbrauch?
In diesem Milieu wird im Namen der Kunstfreiheit vieles gerechtfertigt. Durch die Überlagerung von Kunstfreiheit und einem antiautoritär-linksalternativen Gestus gibt es eine Leerstelle. Da es offiziell gar keine Machtverhältnisse gibt, können sich Figuren, die von anderen abhängig sind, nicht wehren oder um Hilfe bitten. Seit ich mit Schreiben begonnen habe, hat sich in dieser Diskussion viel getan. Mittendrin kam die Me-Too-Debatte, mit der viel Widersprüchliches in der Filmund Theaterbranche aufgeflogen ist.
Hat die Me-Too-Debatte Ihr Schreiben beeinflusst?
Es gab einen Wendepunkt, als die Prozesse rund um Epstein und seine Partnerin Maxwell anfingen. Beim Schreiben dachte ich anfangs, dass es nicht realistisch sei, wenn die Figur Gisela ihren Partner deckt. Aber der Fall Epstein hat gezeigt, dass es eine solche paradoxe Dynamik geben kann. Das Wissen um den Missbrauch ist in meiner Figur drin, aber der Verdrängungsmechanismus ist so stark, dass es erst an die Oberfläche kommt, wenn von aussen Fragen gestellt werden.