Ich erinnere mich an von Dreck dunkel gefärbte Finger, die sich durch nassen Erde graben. An einen kleinen, orangen Körper, der in einer mit rosa Seidenpapier ausgelegten Zündholzschachtel liegt. Daran, wie ich die Schachtel in die Schule schmuggelte, um ihren Inhalt wie ein Geheimnis mit meinen Freundinnen zu teilen. Und wie wir Cloé, so hatte ich den Fisch genannt, im Garten meiner Grossmutter unter Johannisbeersträuchern vergraben und «Beerdigung» gespielt hatten.
Regen fällt, als ich durch den Seiteneingang spaziere. Ich komme gerne über diesen kleineren Eingang rein anstatt über das Tor, das sich zu einer imposanten Allee hin öffnet. Es fühlt sich nach Gewohnheit, nach einem inoffiziellen Besuch an. Der Zürcher Friedhof Sihlfeld wurde 1877 eröffnet, ist die erste konfessionsneutrale Begräbnisstätte der Stadt und auch deren grösste Parkanlage. Mitten in der Stadt liegend, ruhen seine Toten. Augen wandern über die Namen der Grabfelder und vergessen sie sogleich wieder.
Seit ein paar Monaten komme ich hierher, um mich zu erinnern. Die Mauern schaffen der Trauer einen Ort, an dem sie nicht befürchten muss, verdrängt zu werden. Hier kann sie atmen, hier ist sie zu Hause, hier wird sie nicht erklärt. Das Wort Friedhof kommt nicht, wie ich immer angenommen hatte, von Frieden, sondern von Frithof – einem umfriedeten Bereich. Das Wissen darum, dass in dieser Umrahmung auch noch andere Menschen getrauert haben, trauern und trauern werden, nimmt mir Gewicht vom Gesicht.
Ich lese ein Schild am Wegrand, auf dem beinahe entschuldigend erklärt wird, wieso die unteren den Boden berührenden Tannenäste nicht aufgeräumt werden: Sie bieten unter anderem Deckung für am Boden brütende Vogelarten. Mönchsgrasmücke, steht da, und Zilpzalp. Für zahlreiche Tiere sind geschützte Bereiche bei Gehölzpflanzen ebenso wichtig wie Falllaub, das den kahlen Boden bedeckt, Kleintieren als Versteck dient und von Organismen, die biologisches Material abbauen, als Nahrung genutzt wird.
Es finden sich auch weitere Spuren von noch lebenden Friedhofbewohnerinnen und -bewohnern: Benjeshecken und Asttristen, Spechthöhle und Fuchsbau. Innerhalb einer Stadt, welche die Pflanzen- und Tierwelt an den Rand drängt, bewahrt der Friedhof Sihlfeld weit mehr als nur die Toten sowie die Erinnerung an sie.
Wann ich dem Begriff «climate grief» zum ersten Mal begegnete, weiss ich nicht mehr genau. Beschreiben soll er das Gefühl von Verlust, das beim Erleben von Umweltzerstörung entsteht. Wir leben in einer Zeit, in der wir dauernd mit dem Verschwinden von Ökosystemen, Arten oder Orten konfrontiert sind, die eine persönliche oder kollektive Bedeutung haben.
Wie gehen wir als Gesellschaft mit diesen Verlusten um? Arten sterben heute 1000- bis 10'000-mal schneller aus als natürlicherweise, bis zu eine Million Arten sind durch menschliche Aktivitäten bedroht, und jedes Jahr verlieren wir rund 10 Millionen Hektar Wald.
Die globale Durchschnittstemperatur ist seit dem 19. Jahrhundert um etwa 1,2 Grad Celsius gestiegen, was das Abschmelzen des arktischen Meereises und das beschleunigte Abschmelzen der antarktischen Eisschicht zur Folge hat – mit verheerenden Konsequenzen für Küstenregionen weltweit.
Was tun mit diesem Gefühl, dass da etwas passiert, was so furchtbar ist, dass es im Innersten erschüttert, aber gerade so ungreifbar bleibt, dass es sich im Alltag verdrängen und aufschieben lässt? Wir hören und lesen dauernd Zahlen und Fakten, aber sie helfen nicht immer, etwas greifbarer und somit vielleicht auch tragbarer zu machen.
Die Welt, wie wir sie kennen, verändert sich. Wir wissen nicht, was mit uns passiert. Es ist, als würde mir ständig etwas aus den Händen gleiten, sobald ich versuche, danach zu greifen. Eine Lücke, über die ich immer wieder stolpere, obwohl ich weiss, dass sie da ist, denn ich kann meinen Blick nicht von ihr abwenden.
Ich wusste nicht, dass Trauern schön sein kann. Es bedeutet, sich Zeit zu nehmen. Sich zu erinnern, weiter zu lieben, sich über den Tod hinweg zu kümmern und in Beziehung zu treten. Dies als kollektive Aufgabe wahrzunehmen, kann helfen, Trauer in einen Akt des gemeinsamen Handelns zu verwandeln.
Wenn wir gemeinsam trauern, erkennen wir diese Gefühle ineinander an. Gerade in Bezug auf den Verlust von eher weniger greifbaren Dingen – wie ganze Ökosysteme oder Arten – wird dann sichtbar, wie sich das auch auf unser Wohlbefinden, auf unsere Körper auswirkt.
Am Teich erklärt ein Schild die einem Ufer gleich aus dem Wasser ragenden Steinhaufen. Sie dienen den Amphibien als Ausstiegshilfe, da das Becken mit seinen senkrechten Wänden für Jungkröten zur Todesfalle werden kann. Nebenan ein aufgehobenes Grabfeld.
Auf der wild bewachsenen Wiese sind keine Grabsteine mehr sichtbar. Während die hier Begrabenen immer noch unterirdisch ruhen, kann sich die Vegetation erholen, bieten nebst Wiesenfläche auch verlassene Wege neuen Nährboden für allerlei Pflanzen und Tiere.
Um andere Lebewesen als Menschen zu trauern oder gar um andere Formen des Daseins und komplexe Systeme, diesen Schmerz zuzulassen und ihn auszuhalten, bedeutet, sie in unsere Mitte zu nehmen und sich mit ihnen in Beziehung setzen. Erst dann wird es vielleicht möglich, mit dem Verlust umzugehen und Vorstellungen der Vergangenheit loszulassen. Und wer weiss, was dann plötzlich wächst.
Auf dem Weg hinaus komme ich an Johannisbeersträuchern vorbei und bleibe stehen. Ich stelle mir vor, wie ich mit roten Fingerspitzen die Zündholzschachtel ausgrabe, den kleinen Körper herausnehme, den ungeduldig zappelnden Fisch in den Friedhofsteich entlasse. Er dreht sich noch einmal um, bevor er für immer im trüben von weichen Algen durchdrungenen Wasser verschwindet.
Zur Person
Sarah Calörtscher ist 1991 in Graubünden geboren. Nach einem Bachelor in Musik und Bewegung studierte sie Dramaturgie an der Zürcher Hochschule der Künste. Bei Projekten in der freien Szene wirkt sie als Dramaturgin, Musikerin und Autorin mit. Sie ist Mitgründerin der Band Strange Modes und komponiert auch fürs Theater. Für ihr erstes Stück «Herz aus Polyester» hat sie dieses Jahr den Kleist-Förderpreis erhalten. Seit der Spielzeit 2024/25 ist sie Hausautorin im Luzerner Theater. Sarah Calörtscher lebt in Zürich.
