Sanftmütige Helden
Robert Seethaler er-zählt in seinem neuen Roman «Ein ganzes Leben» die bewegende Geschichte eines einfachen Bergarbeiters – ein stilles Buch fernab der städtischen Hektik.
Inhalt
Kulturtipp 22/2014
Letzte Aktualisierung:
15.10.2014
Babina Cathomen
«Wem das Maul aufgeht, dem gehen die Ohren zu.» Nach diesem Motto lebt der wortkarge Bergler Andreas Egger in Robert Seethalers neuem Roman. Abgesehen von acht Jahren Kriegsdienst und -gefangenschaft im Kaukasus hat er sein ganzes Leben in einem österreichischen Bergdorf verbracht. Als Waise ist er dahin gekommen – zu einem Pflegevater, der in ihm nur das Arbeitstier sah. Und trotz körperlicher und seelischer Misshandlungen ist er zu einem Mann herangewachsen, der ...
«Wem das Maul aufgeht, dem gehen die Ohren zu.» Nach diesem Motto lebt der wortkarge Bergler Andreas Egger in Robert Seethalers neuem Roman. Abgesehen von acht Jahren Kriegsdienst und -gefangenschaft im Kaukasus hat er sein ganzes Leben in einem österreichischen Bergdorf verbracht. Als Waise ist er dahin gekommen – zu einem Pflegevater, der in ihm nur das Arbeitstier sah. Und trotz körperlicher und seelischer Misshandlungen ist er zu einem Mann herangewachsen, der anpacken kann und das Herz auf dem rechten Fleck hat. Er hat erlebt, wie der technische Fortschritt und der Alpentourismus Einzug hielten und die Ruhe der Berge durchbrachen. Und er hat am Bau der ersten Seilbahn im Tal mitgewirkt und später – als sein von harter Arbeit geschundener Körper streikte – als Fremdenführer gearbeitet.
Verlorene Liebe
«Er hatte eine Liebe gehabt und sie wieder verloren. Fortan würde ihm nichts Vergleichbares mehr geschehen, das galt für ihn als abgemacht.» So, wie er den tragischen Verlust seiner einzigen grossen Liebe mit der Magd Marie still hinnimmt, so geht er mit allen Schicksalsschlägen um. Und von denen gibt es viele im entbehrungsreichen Leben von Andreas Egger. Dennoch sagt er sich als alter Mann gewohnt genügsam: «Er hatte niemanden, doch er hatte alles, was er brauchte, und das war genug.»
Nach seinem letzten Roman «Der Trafikant» hat der 48-jährige Wiener Autor und einstige Schauspieler Robert Seethaler wieder ein Buch vorgelegt, das tief in die Seelen seiner Protagonisten leuchtet. Seine Werke kreisen um sanftmütige Helden, die sich dem Leben hingeben, so wie es kommt, und anderen nichts zuleide tun. Während beim Trafikanten trotz tragischer Umstände meist der Humor durchblitzte, nimmt sich Andreas Eggers Lebensbeschreibung düsterer aus. Das Sterben ist allgegenwärtig in den Wirren des 20. Jahrhunderts, das der Bergler durchlebt. Der Krieg fordert seine Opfer genauso wie die gefährlichen Bauarbeiten am Berg, Krankheiten oder Naturkatastrophen.
Zarte Poesie
Dennoch leuchten Seethalers Sätze in ihrer Leichtigkeit. Diese ist allerdings schwer errungen. Er entwickle die Bilder in seinem Inneren, weil er im Äusseren kaum etwas erkennen könne, sagte der sehbehinderte Schriftsteller gegenüber der Zeitung «Der Freitag». Und in einem Interview mit der «Basler Zeitung» hielt er fest, dass das Schreiben für ihn eine «riesengrosse Anstrengung» sei. Manchmal schaffe er nur einen Satz pro Tag: «Ich muss mir die Wörter aus allen Teilen meiner Seele zusammenkratzen.» Die Anstrengung lohnt sich: Aus den abgerungenen Sätzen entsteht zarte, von Menschlichkeit durchdrungene Poesie.
Robert Seethaler
«Ein ganzes Leben»
160 Seiten
(Hanser 2014).