Gott, war ich schön», denke ich jetzt, wenn ich zurückblicke und mich gehen sehe mit sehnig schlanken Beinen, krampfaderfrei braun ohne künstliche Sonne. Auf den Beinen hellblond zarte Härchen, unrasiert fein und noch kein bisschen andeutend, welch schwarzharte Monster sie werden würden in späteren Jahren. Über den Haaren eine gelbe Hose aus Frottee mit Schlag und eingewebten Mustern. Blumen waren es, glaub ich. Über den Hosen hervorragende Beckenknochen, so spitz und sorgfältig modelliert fanden sie sich bei keiner andern.
«Gott, war ich schön», denke ich jetzt, wenn ich zurückblicke und mich gehen sehe mit nackten Flanken, straff die samtig weiche Haut über der Bauchdecke. Erst oberhalb der siebten Rippe ein Stück Stoff, eng anliegend ein Gilet aus gelbem Polyester mit orangeroten Schmetterlingen über Schulterblättern und Schlüsselbein. Silbern waren sie, die Knöpfe zum Zuknöpfen, wie Knöpfe von Hosen mit Buchstaben geprägt, «Levis» oder «Miss Sixty», ich weiss es nicht mehr. Ich erinnere mich bloss an das Fingerspitzengefühl beim Aufknöpfen und den Geruch, wenn ich das Gilet abstreifte: Sommer, Schweiss und Strassenstaub. Polyesterfasern, wenn sie warm werden.
«Gott, war das schön», denke ich jetzt, wenn ich zurückblicke und mich gehen sehe mit Schmetterlingen auf den Brüsten, meine muskulär wohldefinierten Arme schlenkernd. Sie taten, als wüssten sie nichts davon, wie sehr sie später erschlafften. Noch trug der ungefaltete Hals meinen Kopf hoch und unbeschwert vom Gedanken an den Zerfall, der bereits in mir lauerte, bereit, mich umzuwandeln, abzubauen. Tag für Tag, Zelle für Zelle. Er wirft die Haut an den Händen in Wellen, bohrt grosse Poren in Nasenflügel, gräbt Fältchen in Ohrenläppchen und Augenwinkel. Vom Lächeln sind sie schon lange nicht mehr. Falten graben sich vom Mundwinkel zum Kinn, Oberschenkelfleisch hängt zunehmend zum Knie hin, von hängenden Backen an Gesicht und Gesäss nicht zu reden.
Tag für Tag, Zelle für Zelle umgewandelt, abgebaut: Dellen in Schenkel gegraben, Kerben in die Nasenwurzel geschlagen, Haaren die Farbe entzogen. Grauenhafte Haare geschaffen, eins, zwei, drei, vier, fünf, hunderte, tausende. Kein Ausreissen hilft, nichts ist diesen Haaren gewachsen.
Tag für Tag, Zelle für Zelle umgewandelt, neu kreiert: Muttermale überall, schrundig braune Flächen für nichts als Ärger. Krampfadern. Tiefblau gezeichnet in bleiche Beine, knotig gezogen kreuz und quer. Fettpolster mit Sitzleder, für die Ewigkeit angelegt, proportionslos.
«Gott, werde ich hässlich», denke ich jetzt und sehe euch junge Frauen gehen, ohne Schlupflider und mit offenem Blick, unberührt von schwarzharten Monstern, die noch kommen, und ich möchte euch zurufen: «Gott, seid ihr schön! Tragt auf ungefalteten Hälsen eure Köpfe hoch, geht gut auf unversehrten Beinen. Geniesst euer Glück.»
Ich selbst wende den Blick vom Spiegel ab und der Tür zu, in der einer den Schlüssel dreht. Ein paar Sekunden noch und dann stehst du da.
Ein paar Schritte von dir und ein paar Schritte von mir, und dann stehen wir zusammen. Ich lehne meinen Kopf an kratzigen Wollmantelstoff, unter dem sich dein grosses Herz und graue Brusthaare verbergen. Und du hältst mich mit meinen Muttermalen, schrundigen Flächen, Krampfadern und Fettpolstern, du umfasst meine grossen Poren, Falten und hängenden Partien, nimmst mich mit Dellen und Kerben und den grauenhaften Haaren. Ich rieche ein wenig an dir und denke: «Gott, bin ich glücklich.»
Wenn wir dann Jahre später in der Alterswohnsiedlung wohnen, du im Rollstuhl und ich auf dürren Beinen gehend, dich schiebend von Baumschatten zu Baumschatten an schnatternden Vögeln und Greisinnen vorbei. Wenn du mich ab und zu besuchst in meinem Zimmer und ich dich in deinem, dann ziehe ich über schwarzverknotete Adern eine gelbe Hose aus Frottee mit Schlag und eingewebten Mustern.
Gehe vor dir auf und ab, mit Wasser in den Füssen und brüchigen Beckenknochen. In Kaskaden fällt die Lotterhaut über dem Hosenbund, kaum bedeckt vom gehäkelten Gilet aus gelbem Garn, grau angelaufen die Knöpfe zum Zuknöpfen. Ich kann sie mehr fühlen als sehen, denn das mit dem Augenlicht geht auf lange Sicht gar nicht mehr. Du, aus dem Schläfchen erwacht, schaust mir zu, wie ich sachte Schritt für Schritt näher zu dir hin schlurfe. Wenn ich nun die Knöpfe suche mit zittrigen Fingern, muss ich an früher denken und den Geruch nach Sommer, Schweiss und Strassenstaub.
«Wehe», sage ich. «Wenn du jetzt nicht sagst: ‹Gott, bist du schön.›»
Sandra Hughes
Soeben ist ihr neuer Roman «Fallen» (Dörlemann) erschienen. Die Autorin wurde 1966 geboren und wuchs in Luzern auf. Sie studierte Kunstwissenschaft an der Universität Basel und arbeitet in der Abteilung Kultur Basel-Stadt. Bisherige Romane: «Lee Gustavo» (2006), «Maus im Kopf» (2009) und «Zimmer 307» (2012). 2013 erhielt sie den Kulturpreis des Kantons Basel-Landschaft in der Sparte Literatur. Sandra Hughes lebt mit ihrer Familie in Allschwil bei Basel.